Samstag, 27. Dezember 2014

Zwischen den Jahren - ein Resümee


 
Weihnachten ist die Zeit der Liebe, des Schenkens und beschenkt werdens. Wir wissen es alle und im Grunde mögen wir es nicht, dieses überschüttet werden von Angeboten der vorweihnachtlichen Glitzerwelt in den Kaufhäusern und gnadenlos überfüllten Weihnachtsmärkten.
Dennoch, man steht unter Druck, wieder das gleiche Ritual wie jedes Jahr zu vollführen und ein Zeremoniell abzuhalten, welches von uns als Familienmitglied erwartet wird. 


Ich weiß nicht, ob es Einbildung war, aber dieses Jahr erlebte ich die Menschen um mich herum in einer Art von nervlicher Anspannung, die mir auf diese besondere Weise etwas fremd erschien. Es war nicht nur negativ, auch eine große positive Erwartung war vorhanden. Ich hoffe nur, dass sich diese Erwartungen weitgehend erfüllt haben. 


Vielleicht war es aber auch meine eigene besondere Lebenssituation, die mir mein Umfeld auf diese Weise vor Augen hielt, meine eigene hochsensible Brille, die ich dieses Jahr scheinbar trage.
Das Bild, welches ich durch diese Brille betrachten konnte, möchte ich jetzt gerne beschreiben.
Im Moment lebe ich alleine in meinem urgemütlichen Dachboden eines alten Fachwerkhauses,  mehr oder weniger mitten in meinem Maleratelier. Das Haus steht in einem idyllischen Dorf und ich bin umgeben von lauter liebenswerten Menschen. Wenn ich aus dem Fenster sehe, breitet sich eine wunderschöne Landschaft vor mir aus. Mitten durch schlängelt sich ein Waldweg tief in ein Tal hinein in dessen Mitte ein kleiner Teich zum Verweilen einlädt. 


Womit habe ich ein solches Glück verdient? Diese Frage stellte ich mir oft in diesem Jahr und ich fand eine Antwort. Ich verdiente mir mein Glück mit dem Mut, den ich Anfang des Jahres aufbrachte, meine alte Haut abzustreifen und mich endlich auf den Weg zu machen, das zu sein, was ich wirklich bin. Und dies ist wahrlich kein leichtes Unterfangen. Zu sein was ich bin hat nichts damit zu tun, welchen Job ich ausübe, wie viel Geld ich verdiene oder in welchen materiellen Nöten ich bin.
Jeden morgen stehe ich früh auf, fahre zur Arbeit und wische viele Quadratmeter Boden, Tag für Tag immer das Selbe, mal mehr mal weniger Schmutz, mal mehr mal weniger Kontakt zu meinen Kollegen. Das Reinigen von Toiletten tut meinem Selbstwert keinen Abbruch. 
Ich bin was ich bin, auch dort und dies ermöglichte mir, Aufgaben zu übernehmen, die nicht gerade zum Tätigkeitsfeld einer Reinigungskraft gehören. Meine Kreativität wurde an allen Ecken gebraucht und geschätzt. 


Ich gehe über den Tag verteilt auch anderen Aufgaben nach, verdiene meinen Unterhalt, so wie es mir gerade möglich ist, lebe zwar am Existenzminimum und in ständiger Ungewissheit, aber ich brauche die restliche Zeit für meine Kunst und den Selbstausdruck, den ich darin finde. Ich werde das Gefühl nicht los, dass es eine Zeiterscheinung ist, dass die Lebensentwürfe der Menschen einem Wandel unterzogen sind, dass viel mehr Flexibilität gefordert ist, als es einst der Fall war. Nichts bleibt wie es ist. Das wurde mir in diesem Jahr sehr deutlich vor Augen gehalten. Das Leben erwartet von mir die Bereitschaft, dies anzunehmen und mich dieser Tatsache anzupassen. Tue ich es nicht, werde ich daran zerbrechen, wie ein Baum im Sturm.
Die Akzeptanz des Verlustes spielt dabei eine wesentliche Rolle. 


Auch Beziehungen verändern sich, die unguten wurden beendet, neue wahrhaftige Beziehungen geknüpft und Altem wirklich Wertvollem wurde die Chance gegeben zu genesen und wieder aufs Neue zu erblühen. Alles wird sich ändern, auch mein wundervolles Leben hier an diesem gesegneten Ort, wird wieder sein Ende finden, wird aber einem Lebensentwurf weichen, der voll und ganz auf mein wahres Sein abgestimmt ist. Dieser Raum den ich mir gemeinsam mit dem Menschen schaffen werde, der sich als mein „Fels in der Brandung“ über viele Jahre bewiesen hat, wird mir den Platz lassen, den meine Seele braucht, um atmen zu können. Denn diesen Raum sollten wir uns gegenseitig lassen.


Die letzten Monate gaben mir die Chance zu erkennen, was es heißt, zu lieben. Meine Vorstellung von Liebe war zu einem finsteren Bild verkommen und daran waren viele und vor allem sehr alte Ereignisse beteiligt.
Atmen – der Seele wieder Luft lassen, damit sie sehen und fühlen kann, gibt diesen Raum frei, in dem wir der Liebe wieder begegnen. Wer nicht lieben kann erkrankt an Geist, Seele und am Ende auch am Körper. Lieben ist wie atmen, ein und aus in aller Ruhe, in Frieden aber ebenso mit einer klaren Vehemenz, die deutlich zeigt, wo die Grenzen verlaufen zwischen dem Innen und dem Außen, dem Ich und dem Du, wo Verschmelzung gestattet und Abstand vonnöten ist. 


All diese Erkenntnis durfte ich in diesen wundersamen Weihnachtstagen zur Entfaltung bringen und sie erwiesen sich als „wirklich“ im Sinne von wirksam.
Ich bin erfüllt von Frieden und Dankbarkeit. Jetzt – denn ich weiß um die Stürme, die folgen werden, ebenso weiß ich um meine eigene Biegsamkeit, die es mir ermöglicht unter dem schwersten Stein hervorzukriechen und wieder aufzustehen, mich weit zum Himmel aufzurecken und mich in verschiedenste Richtungen auszudehnen.
Eine Seele in Bewegung bricht nicht…

In diesem Sinne wünsche ich allen einen wundersamen Übergang ins neue Jahr 2015

Sonntag, 14. Dezember 2014

Heute ist ein besonderer Tag



Wer vorne fliegt ist einsam, denn er sieht die anderen nicht, die ihm folgen.
Es sind Wegesucher, Pfadfinder, Bergführer, alte Zugvögel, welche die Route kennen, weil sie sie schon hundert mal geflogen sind. Sie fliegen vorne weg in einsamen Höhen im blinden Vertrauen, ihr Ziel irgendwann zu erreichen. Wer hinterher  fliegt fühlt sich geborgen, gut aufgehoben, weil da ein anderer ist, der den Weg kennt, man kann die Verantwortung ein Stück weit los lassen und sich den Gegebenheiten anvertrauen. Das erleichtert und gibt Sicherheit.

Doch, was ist, wenn es keinen mehr gibt, der vor ihnen fliegen kann, weil keiner den Weg so gut kennt, wie sie selbst – dann werden sie einsam. Aber sie sind nur Menschen, fehlbar und sterblich. Selbst der geübteste Flieger kann sich irren und auch er geht dem Tod entgegen, wie jedes lebende Wesen. Auch er kennt die Angst und dann ist da niemand, der vor ihm fliegt und den Weg weist, kein Bergführer, der sicher das Seil in der Hand hält und einem sagt, wohin man treten muss. Sie verankern ihre Seile selbst in den steilen Wänden, tragen die Verantwortung alleine und sind sich darüber bewusst. Da weht ein eisiger Wind in diesen Höhen und wer friert muss warten, bis es wieder warm wird.

Sie wissen es, wissen um die rasch wechselnden und harten Klimabedingungen und dennoch, sie gehen weiter, fliegen, auch wenn die Kräfte nachlassen, denn, was sonst sollten sie tun. Wer vorne fliegt, tut es, weil er es muss und er muss es, weil er es kann. 

In einem Flug über den Ozean hält man nicht einfach an, das würde den Tod bedeuten, also, fliegt man, solange, bis man sein Ziel erreicht hat. 
Es waren die Flüge, die harten Bedingungen selbst, die sie zu dem gemacht haben, was sie sind – Pioniere des Lebens.
Weit ab vom Trivialen wandern sie, die Heiler, die Helfer, die Philosophen, die Künstler, die Forscher und Erfinder und viele viele andere. Trotz ihrer großen Anzahl sieht einer oft den anderen nicht, weil sie im Nebel fliegen müssen.
Das Einzige was bleibt ist der Glaube, die Gewissheit dieser inneren Stimme folgen zu müssen. Sie allein erzählt diese wahrhaftige Geschichte vom ewigen Leben der Seele und dem Sinn ihres Seins. 

Irgendwann, wenn man lange genug alleine geflogen ist, wird man bescheiden. Es macht sich Dankbarkeit breit, dafür, dass man an einem unendlichen Bewusstsein teilhaben darf und seine Sinnesorgane nutzen kann um dieses Leben wahrnehmen zu können. Denn unsere Wahrnehmung macht uns zu dem, was wir sind. Und wir können uns sicher sein, dass wir längst nicht alles wissen und nicht jede Fähigkeit nutzen, die noch im Verborgenen liegt.

Es ist völlig gleich, welches Gewand wir in diesem Leben tragen, welch einer Tätigkeit wir nachgehen, in jedem unserer Augenblicke können wir wahrhaftig SEIN.
Eindruck und Ausdruck sind die beiden Kräfte, die uns auf unseren Flügen nach vorne treiben, und der Verarbeitungsprozess im Inneren ist das Feuer, welches in unserem Motor brennt. Jeder Tag, an dem wir diese Erkenntnis wie ein rettendes Serum durch unsere Adern pumpen, ist ein besonderer Tag.

Donnerstag, 11. Dezember 2014

Stille



Fragend steht die Stille im Raum
fordert mich heraus zum Reden
doch ich antworte nicht
schweige wie ein trotziges Kind
und stemme mich gegen das
was jetzt will
dass ich bin
doch ich weine
in meine Einsamkeit hinein
und die Welt wendet sich ab
ich zittere
weil es Angst macht
dieses Fremde in mir
als kenne ich mich nicht
finstere Vögel tragen ihr Gefieder
mitten durch mein Inneres
und hinterlassen
kalten Wind
ich lasse ihn verwehen
und drehe mich um
hin zu dem was wärmt
bedeutungsloser
als der Schmutz
unter meinen Fingernägeln
finde ich mich wieder
vor mir selbst
und kann mir nicht helfen
die fragende Stille bohrt sich ins Gehör
raubt mir den Sinn für Klarheit
sie lässt mich erschöpft
auf mein Lager sinken und
mich stur dem Tage verweigern
ich will nicht
nicht jetzt
nicht so
und auch nicht anders
die Zeit bleibt stehen
und ich mit ihr
ein Uhrzeiger verliert
seinen Sinn
und verharrt im Moment
die Stille legt endlich
ihr singendes Schwert
in die Tiefe und schweigt
ich halte das Gleichgewicht
an der Grenzlinie
zum Nichtsein
und sehe im Schimmer
der Finsternis
das was ich zu sein scheine
der Schein wirft sein Licht
auf das meine
uns löscht sich aus
es verwirft sich die Bedeutung
einer Nichtigkeit
löst meine Fesseln
und schenkt mir Freiheit
schweigend steht die Stille
breitet ihren Mantel aus
über den Tag
und lässt mich endlich
in meinem Frieden
ruhen.



Montag, 24. November 2014

Herbst




Ein Flug durch Nebel
wie ein Blatt im Herbst
verlebt und Farbe verloren
so schwebe ich durch Zeit
jede Gegenwehr
erfüllt den Sinn nicht mehr
ich lass mich treiben
falle auf ein festes Fundament
gebe mich dem hin
was ich jetzt werden soll
löse mich von Altem
bewege mich fragil
und jeder Windhauch lässt mich frieren
das Grau über den Hügeln
treibt mich in den Kerzenschein
und ins Gebet
Hoffnung und Vertrauen
ist das Pflaster meiner Seele
ein Verband
der den Bruch zusammenhält
und ihn heilen lässt
während ich warte
und bete
in die Stille hinein
umarme ich mich selbst
und wecke die Sehnsucht
dem eigenen Keim zu entsprießen.

Dienstag, 21. Oktober 2014

... und nenne es Liebe



Es will sein
und es ist
umgeben von Wärme und Wasser
schwebend genährt
es schlägt ein Herz
regt sich
bewegt sich
führt die Hand zum Mund
schmeckt und verinnerlicht
träumt
von Lauten
schwelgt in Stimmen
bedeutungslos
lauscht und schläft
wacht und greift
streckt sich aus
und stößt an Grenzen

Grenzen rücken näher
bedrängen
fordern Reaktionen
verlangen Wachheit
machen sich bewusst
es will
und kann nicht
Grenzen werden enger
es kämpft dagegen an
erinnert sich
will Weite zurück
bekommt sie nicht
es will sein
wird mehr
hat keinen Platz
Mangelbewusstsein
es verlagert sich
sucht Freiraum
streckt sich
wird eingeengt
will sich Ausdruck verleihen
und kann nicht
es will
der Wille wird laut
schmerzhaft
es richtet sich
bahnt einen Weg
die Wärme wird hart
presst und schiebt
die Haut schmerzt
erster Gewaltakt
entstellt das Gesicht
droht Knochen zu brechen
raubt die Wärme
treibt es aus
in trockene Rauheit
in gleißendes Licht
Stimmen überlaut
erste Härte
erste Kälte
Trennung
Angst
der Mund reißt auf
zieht das Außen nach innen
schafft Ersatz
für eine durchtrennte Bindung
eine verlorene Welt
und atmet

ich bin
ich suche
ich sehne
will Vertrautes zurück
will jetzt Inneres auffüllen
das Außen nach innen holen
es nähert sich die Hand
Wärme beruhigt
zwei Augen in meine
erste Nahrung
ich sauge sie ein
ein Weg in die alte Welt
Bindung
nicht loslassen
Ähnliches zu Ähnlichem
Gegensätze machen Angst
drohen mit Trennung
Trennung ist Schmerz
erste Erfahrung
erster Entwurf
für ein späteres Bild
tausende Male überarbeitet
entstellt
von mir und der Welt

Heute
Fühle immer noch 
Sehnen nach Bindung
Sehnen nach Heimat
nach Einbettung und Vertrautheit
nach Ursprung
und gleichsam
nach Freiraum
Bewegung - Entwicklung
 
Sehnen fordert Hingabe
Hingabe öffnet die Seele
Sehnen bündelt Energie
und richtet sie auf ein Ziel aus
will es einverleiben
in den Körper
in die Seele
will mich hingeben
mich verlieren
im Anderen
im Außen
suche Ausgleich
im Kampf
zwischen Ich und der Welt
zwischen Wille und Sein
Haben und Geben
ergebe mich am Ende
allen Gegensätzen
löse Angst auf
in der Vorstellung
von Vereinigung
mit mir und der Welt 

Ein-sam...
 
lege ich die Waffen nieder
und fühle Leben
fühle ein tiefes „Ja“…

und nenne es Liebe.






Montag, 20. Oktober 2014

Dein Leben




Ich bin das Leben,
Ich bin dein Leben,
Stelle mich dir gegenüber
Um dir ins Auge zu sehen
Mich dir sichtbar zu machen
Es ist höchste Zeit
Dich wach zu rütteln
Bevor du mich zertrittst
Mit deinem derben Fuße
Die Verbindung zerreißt
Die dein Herz am Schlagen hält 
Hin und wieder seh ich Lichter blitzen
Sie lassen hoffen auf dein Verstehen
Dann greifst du nach einem Schmetterling
Und zerdrückst ihn in deiner Gier
Seufzend suchst du nach Erfüllung
Jammerst um dein Sein
Klagend trittst du schon die Morgenstunden an
Und zankst dich mit den Deinen 
Das, was du des Tages tust
Geht still und schweigend
An dem vorüber
Was du wirklich bist
Verspielst dein Potenzial
Und tauscht es gegen Geld
Nur um zu horten, was vergeht
Um zu beweisen
Dass du wer bist
Dabei bist du Dummkopf
Bereits als König geboren
Doch du stirbst als Clown
Einsam und arm 
Des Nachts wenn du die Augen schließt
Quält dich das Gewissen
Du weißt es
Dass du wieder mal
An mir vorbei gegangen bist
Du ignorierst mich hocherhobenen Hauptes
Und glaubst du seiest im Recht
Oh Mensch
Wie hast du mich geschlagen
Meine Heimat
Mit dem übelsten Schmutz beworfen
Dem, der mich hat werden lassen
Der einstig deine große Liebe war
Dem hast du ins Gesicht getreten
Hast dich gerühmt jahrtausende
In deiner Übermacht
Die nur ein dummes Spielzeug ist 
Ich stehe neben dir
Und harre aus
Um fest zu halten
Was dich an mich bindet
So will ich dich vorm Tod bewahren
Für eine kurze Zeit
Eine kleine Weile noch
Doch, denke nach
Und sieh mich an
Sag einmal danke nur
Damit der letzte Funke Mut
Nicht von mir weicht
Und ich dich fallen lasse.

Feb. 2012




Mittwoch, 8. Oktober 2014

Der große Durchbruch




Es gab eine Zeit in meinem Leben, da schien es keinen Ausweg aus meiner  Situation zu geben. Ich hatte mich im Laufe der Jahre in eine Lage hineinmanövriert, dir es mir unmöglich machte meinen Weg weiter zu gehen. Ich war materiell und emotional in einer solchen Abhängigkeit, dass ich glaubte, für mich gäbe es keine Alternativen mehr. Was ich hatte, habe ich weder gewollt, noch hätte ich es weiterhin ertragen. Ich wurde meinem inneren Wesen schon lange nicht mehr gerecht und hatte längst das Bild von mir vergessen, welches lange in meinem Herzen überlebt hatte.
Der Mensch, mit dem ich mein Leben teilte, bot mir alles, damit ich ein zufriedenes und abgesichertes Leben hätte führen können.
Ich werde seine Worte nie vergessen, die in regelmäßigen Abständen immer wieder auf mich trafen und vorübergehend meine Ängste beruhigten. „Kümmere dich um deine Kunst, du kannst was draus machen, du hast hier alle Möglichkeiten.“ Ja, die hatte ich, aber ich hatte mich nicht, ich war mir selbst fremd geworden, ich lebte Jahre lang eine Lüge und die fraß mir Körper und Seele auf.

Irgendwann war die Situation so unerträglich geworden, dass ich das Gefühl hatte, vor einer undurchdringlichen Wand zu stehen, es gab keinen Weg dran vorbei, keinen hindurch und keinen drüber hinweg. Alternativlos – das machte mir eine entsetzliche Angst. Alle Wege, die möglich gewesen wären, machten mir Angst. Ich hatte Angst zu versagen, alles zu verlieren, Angst, die falsche Entscheidung zu treffen und daran zu zerbrechen. Ich hatte nicht mehr viel Kraft, hatte alles verbraucht, ich hing am Tropf.
Damals war es ein weit entfernter Freund, dessen Worte mir Mut machten, mich wieder an mich selbst zu erinnern, mir Hoffnung gaben und eine Ahnung dessen, was sein könnte, wenn ich nur den Mut aufbrächte, etwas zu verändern.

Ich wusste genau, das, was ich gewohnt war zu leben, musste ich loslassen, alles würde ich loslassen müssen, meine Heimat, einen Menschen, mit dem ich über zwanzig Jahre meines Lebens verbracht hatte und den Gedanken, meine künstlerische Arbeit auf Vordermann bringen zu können und irgendwann damit ein Einkommen zu erzielen. Alles habe ich aufgegeben und mich vorbereitet auf eine völlige Veränderung.
Das erste, was ich ändern musste war die Vorstellung davon, wie die Dinge um mich zu sein hätten, meine Vorstellung von mir selbst, meiner Arbeit und meinem Tagesablauf.

Ich war seit Jahren gesundheitlich angeschlagen und war davon überzeugt, kaum noch einer regelmäßigen Arbeit nachgehen zu können, ich war überzeugt, in Armut leben und irgendeinem unangenehmen Fabrikjob nachgehen zu müssen und keine Zeit und Freiräume mehr für mich und meine künstlerische Arbeit zu haben. Ich sah mich im Alter in Armut und Einsamkein dahinvegetieren. All diese Überzeugungen hinderten mich daran, eine Entscheidung zu treffen. Ich war mir sicher, einen solchen Wandel nicht ertragen zu können, er kam einem abgrundtiefen Scheitern gleich und so war mir innerlich und äußerlich anzusehen – mein Leben war an die Wand gefahren. Ich sah mich als Gescheiterte am Leben, an allem, was ich je angefangen hatte. All das, was ich glaubte, war das Schwert, mit dem ich zu meiner eigenen Hinrichtung schritt.

Dann kam der Zeitpunkt, an dem ich einfach aufstand, es hatte sich über mehrere Tage angebahnt, ich fühlte es in mir und es war, als hätte ich all das gar nicht selbst gesteuert, ES hatte sich in Gang gesetzt und ich gab mich dem hin, eine andere Wahl hatte ich nicht. Das Ganze glich einem Geburtsvorgang und auf die Wehen, die kommen hat man kaum Einfluss.

Ich traf die ersten Entscheidungen, die mich von Station A zu Station B brachten, weiter war ich nicht in der Lage zu denken. Ich sah immer nur den nächsten Schritt vor Augen, alles Weitere hatte mich nicht zu interessieren, denn ich hatte keinen Einfluss mehr darauf, das spürte ich deutlich. Plötzlich tat ich Dinge, mit denen keiner gerechnet hatte, selbst ich nicht. Ich durchbrach die Mauer mit einem Schritt und dem nächsten und wieder dem nächsten und ich achtete nicht auf das, was danach kommen könnte oder ob meine Schritte zusammen einen Sinn ergeben. Ich spürte, ich hatte etwas in mir, das einem inneren Navigationssystem glich, wie ein Zeiger, der in eine Richtung zeigte und ich musste folgen und ich folgte, Schritt für Schritt. Bei jedem Schritt wurde mir übel vor Angst aber ich tat ihn trotzdem und danach veränderte sich jedes Mal die Situation und es gab wieder einen neuen Punkt, auf den ich meinen Fuß setzen konnte. Auf diese Weise habe ich es scheinbar dem Schicksal ermöglicht, sich auf mich zu zu bewegen, mir Dinge entgegen zu bringen, mit denen ich etwas anfangen konnte. Mit vielem hätte ich vorher nie gerechnet. Dies setzte allerdings die Bereitschaft voraus, von meinen alten Vorstellungen loszulassen.
Materiell war ich es bereits gewohnt, mich mit einer gewissen Qualität zu umgeben, ich war es gewohnt, spät ins Bett zu gehen und länger als nötig zu schlafen, regelmäßig zu kochen und zu essen und alles im Kühlschrank zu haben, was man braucht. Im Winter war es warm und ich konnte duschen, so oft und so lange ich wollte. Ich hatte nie darüber nachgedacht, es war selbstverständlich. Auf einen Schlag löste sich all das auf, was mir vorher Sicherheit bot.
Innerhalb von drei Wochen änderte sich mein gesamtes Leben. Es tauchten unerwartete Angebote auf, die es mir ermöglichten, ein Leben zu führen, das einerseits bescheiden ist, mir aber dennoch alles bietet, was ich brauche. Ich habe mir einen Freiraum geschaffen, in dem ich nach meiner Art und Weise agieren kann.
Ich habe neue Menschen kennen gelernt, die meine Fähigkeiten erkannt haben und gerne in Anspruch nehmen und ich gebe gerne weiter, was ich geben kann. Allein diese Bereitschaft öffnet mir immer wieder neue Tore.

Mein Gedanke, vom Wohlwollen eines einzelnen Menschen abhängig zu sein, hat sich völlig aufgelöst. Mir ist bewusst, dass ich einige Risiken eingehen musste, um meinen Weg zu gehen. Eine einzelne Person ohne gelernten Beruf, ganz auf sich gestellt, geht in dieser Gesellschaft immer ein wenig auf Glatteis. Aber das nehme ich in Kauf, für meine Freiheit, die ich mir erhalten will. Auch die heutige Form meines Lebens wird sich wieder verändern, nichts bleibt wie es ist und das ist gut so, denn nur die Tatsache, dass alles was ist auch irgendwann vergeht, gibt mir die Gewissheit, dass auch mein Leben veränderbar ist und ich immer wieder neue Chancen haben werde.
Ich verlasse mich auf eine Kraft, die scheinbar mehr über mich und mein Leben weiß als ich selbst. Immer wieder, wenn ich nicht mehr weiter wusste, schaltete sich diese Kraft spürbar ein.

Ich kenne die Angst, den Schmerz der Einsamkeit, zehrendes Heimweh, das fade Empfinden, geschmackloser Sinnlosigkeit, das Abrutschen in eine geißelnde Gedankenstarre. Tagtäglich verlief ich mich in meinem eigenen Labyrinth. Aber, ich habe gelernt aufzustehen, mich zu lenken, ich habe den Weg aus dem Labyrinth auswendig gelernt und es hat sich gelohnt.
Hier ging es nicht um eine gescheiterte Beziehung, denn die hat all das überlebt, weil sie sich durch diesen Schritt entwickelt hat. Eine Beziehung kann auf so viele verschiedene Arten gelebt werden, auch hier musste ich von alten Mustern loslassen.  Es ging um mich und um all das, was ich in meinem Leben nie gelebt habe und das war verdammt viel. Ich bin die meiste Zeit an mir vorbei gelaufen, ich war nie ganz, immer nur ein Teil meiner selbst.
Seit über fünfzig Jahren habe ich das erste Mal das Gefühl, ein ganzer Mensch zu sein, der in der Lage ist, für sich selbst Verantwortung zu tragen.
Trotz all der Ecken und Kanten meines Daseins, ich lebe, was ich bin und vielleicht bin ich auch ein wenig stolz darauf, dass ich es geschafft habe, aber im Grunde meines Herzens bin ich unendlich dankbar, und zwar genau dieser wunderbaren Kraft, die mich lenkte, als ich in tiefster Not und Verzweiflung war.



Fliehen

  Es reißt das Leben Lücken In dein Auffangnetz Unbarmherzig Unvermutet Ohne Vorbereitung Es will halten, es will schützen ...