Holundernacht - spirituelle Erzählung



 
Das Wort




Am Anfang war das Wort….. Doch hier ist nicht einmal das.
Ein leeres Blatt Papier, viel versprechend und sein Wissen darüber, was kommen mag steht geheimnisvoll im Leeren. Die  einzige Gewissheit, die ich habe, besteht darin, dass es ein Wort gibt, bedeutungsvoll,  irgendwo  in der Zukunft.
Das Wort erreichte mich während ich in der Stille saß und wartete. Das ist meine Art der Meditation. Ich warte. Mehr nicht. In diesem Akt des Wartens hörte ich es zu mir klingen, verstand es jedoch nicht. Das Warten hatte ein Ende, die Stille wich dem Alltag, aber das Wort lief mir nach, gleich wohin ich ging. Bis heute trug ich es mit mir, wie ein Geheimnis, ein Juwel, beschützt und behütet durch standhaftes Schweigen.
Mein Leben ist unruhig geworden, es ist, als wäre das Wort eine Kraft, fähig, den Urgrund meines Seins zu erschüttern, um auf sich aufmerksam zu machen. Es ruft und zerrt an mir, als wolle es mich treiben, einen Weg zu gehen, welcher völlig unbekannt vor meinen Füßen liegt.
Eines Tages würde es so weit sein. Seit Jahrzehnten sitzt die Gewissheit in meiner Seele, dass ich eng verbunden bin, mit einem großen inneren Ereignis. Ganz allmählich wird mir bewusst, dass ich dieses Ereignis nicht allein durchleben werde. Andere werden teilhaben und durch ihre Teilhabe wird das Wort ein lebendiges Feld tragender Energie. So jedenfalls stellt es sich vor meinem inneren Auge dar.

Liebe, Licht und Freiheit könnten  die Grundpfeiler einer Welt sein, welche wir uns selbst erschaffen. Ich bin überzeugt, dass allein der Glaube, die Gewissheit etwas wirklich werden lässt.
Ich höre das unbekannte Wort in mir erklingen und sehe ein helles Feld. Ein eigenartiges Gefühl erreicht mein Bewusstsein, so, als könne ich sicher sein, das Richtige zu tun. Gott ist mein Zeuge und mein einziger Begleiter. Mir bleibt nichts anderes, als von allem loszulassen, was ich je geglaubt habe. Mein Leben lang habe ich nach Erklärungen gesucht, für das Geboren werden, das Sterben und für all das, was sich dazwischen ereignet. Ganze Bauwerke aus Gedanken und Glaubenssätzen türmten sich und wuchsen, strukturierten mein Gehirn und zerfielen, um sich immer wieder neu zu errichten. Irgendwann sah ich nur noch staunend zu, als wäre ich gar nicht mehr daran beteiligt.
Ordnungsgemäß lebte ich mein Leben, um mich zumindest den Wünschen der Natur zu beugen, und um mein Ego soweit zufrieden zu stellen, dass es mir nicht zur Last fiel. Mehr erwartete ich nicht von mir. Vielleicht  war genau das der Kuss, mit dem ich das Wort geweckt hatte. Noch nie hörte ich diesen Klang so deutlich nach mir rufen wie heute. Die Unruhe wächst und ich weis nicht, wo, oder wie ich beginnen soll. 
Wie so oft, wenn ich ratlos bin, werde ich mir dieser Kraft bewusst, welche mich hier leben lässt. Ihn, den ich als Gott bezeichne, der Einfachheit halber soll er männlich bleiben, bitte ich inständig mich zu führen durch diesen Nebel von Empfindungen und Bildern. Ein Klangrausch durchflutet mein Gehirn und ich glaube, Welten zu erahnen. Sind es Visionen oder Erinnerungen? Ich weiß es nicht.
Etwas treibt mich loszulaufen, als wüssten meine Beine besser als der Kopf wo das Ziel der Reise liegt.





Die Wanderung



Es ist dunkel und vor mir in der gewohnten Ecke erahne ich die grün schimmernden Ziffern meines Weckers. Fünf Uhr morgens. Allmählich stehle ich mich aus den Resten eines Traumes, setze mich aufrecht und sehe durch das dämmrige Zimmer. Ich erinnere mich wieder an meine Versuche, einzuschlafen. Diese Unruhe holte mich immer wieder von dieser wohlig warmen Schwelle zurück und riss mich in eine Wachheit, die mir fremd erschien. Ich ergab mich diesem Zustand und lauschte lange in die Stille. Nach einiger Zeit begann ich zu beten. Ich sprach mit Gott, erzählte ihm von meinen Empfindungen, bis ich mich so tief darin verhaftet fand, dass die Welt um mich unwirklich schien. Ich bat ihn, mich zu führen, mir Zeichen zu senden, nach denen ich mich orientieren könnte. Ich war so voller Zweifel und dennoch zeigte sich ein leichter Hoffnungsschimmer. Mit dieser Hoffnung gelang es mir, endlich einzuschlafen. Dann kam dieser Traum. Er tauchte mich in Bilder einer Welt die mir vertraut erschien und dennoch nicht von dieser waren. Hohe, lichte Wesen in hellen Gewändern umringten mich und sahen mich an. Mehr geschah nicht. Sie standen einfach da, doch ihre Blicke verrieten  viel. Es war, als könne ich ihre Sprache verstehen. Sie warteten, lange schon, dass ich mein Werk erfülle und den Anfang mache. Und wieder stand ich ratlos, denn ich wusste nicht, wovon.
Ich drücke auf den Lichtschalter und mein Zimmer taucht in ein dezentes gelbliches Licht. Angenehm für einen frühen Morgen. Es ist kalt, das Fenster steht offen und lässt den Blick in die morgendliche Dämmerung frei. Eine Amsel singt ihr Lied und wartet auf den Tag. Das laute Gurgeln der Kaffeemaschine holt mich aus dem letzten Rest Schläfrigkeit. Mit einer großen Tasse platziere ich mich, in eine Decke gehüllt, auf meinen Sessel und sehe aus dem Fenster. Auf dem violett gefärbten Himmel beobachte ich die weiße Linie, die sich wie berechnet von Süd nach Nord zieht. Ich denke an die schlafenden Passagiere in der Maschine und frage mich, wohin sie wohl fliegen. Ein schöner Gedanke, und ich fühle mich auf seltsame Weise mit ihnen verbunden, mit Menschen, die ich nicht kenne. Dort oben sitzen sie, voller Vertrauen auf ihren Kapitän, umgeben von einem dünnwandigen Flugzeugbauch, allein, in ihrer eisigen Höhe.
In meiner Vorstellung taucht die Erde auf, wie ein Flugobjekt im All. Ein Haufen lebendiger Wesen drängen sich auf dieser Kugel zusammen, in der einzigen Hoffnung überleben zu können. Welch ein Wunder wird aus dieser Konstellation, wenn ich mir die unendliche Weite vorstelle, die diese Welt umgibt.
Da taucht sie wieder auf, diese Frage, die ich mir einfach nicht beantworten kann. Wenn Zeit und Raum unendlich sind, ich meine wirklich unendlich, wie groß ist dann die Wahrscheinlichkeit, dass Du und ich zur selben Zeit am selben Ort erscheinen?
Wie groß ist die Möglichkeit, ein Zeitfenster von siebzig oder achtzig Jahren zu erhaschen, um auf einem Planeten wie diesem zu leben und dieses Leben auch noch mit anderen Mitgeschöpfen teilen zu können? Stelle ich diesen Lebensvorgängen die Unendlichkeit gegenüber, so schrumpft diese Wahrscheinlichkeit vor meinem geistigen Auge rapide auf Null.
Zufall? Versuche in einem unendlichen Zeit – Raum zufällig einen bestimmten Punkt zu treffen. Es muss gewollt sein, sonst funktioniert es nicht. Deshalb ist Leben für mich kein Zufall. Es war gewollt, bevor es sich auf diese uns bekannte Weise zeigte.


2
Diese Erkenntnis reichte mir nach Jahrzehnte langem Suchen für einen Gottesbeweis. Seit dem spreche ich wieder häufiger mit ihm.
Ich stelle meine Kaffeetasse auf den Schreibtisch und hebe eine der Seiten auf, die ich gestern Abend noch geschrieben hatte. Das Wort, der Anfang gefällt mir. Es ist verrückt, eine Geschichte zu schreiben, sich darauf einzulassen, ohne zu wissen, was geschehen wird. Ich kenne weder ihren Verlauf, noch das Ende. Diese Geschichte ist mir ebenso unbekannt, wie Dir,  jetzt, wo du sie im Augenblick liest.
Ich lege das Blatt auf den noch dünnen Stapel zurück und suche meine Kleidungsstücke zusammen, die verstreut in meinem Zimmer liegen. Der kurze Blick in den Spiegel stellt mich zufrieden. Jetzt habe ich anderes im Kopf. Der Tag gehört mir und dem, was da auf mich wartet.
Draußen ist es bedeutend heller geworden, und zu der singenden Amsel gesellen sich noch viele andere fröhliche Stimmen hinzu. Die Luft riecht würzig und streift kühl durch meine Nasenflügel. Der Wald ruft mit all seinen Gesängen.
Heute ist mein Rucksack schwerer. Einiges an Proviant wird nötig sein, eine zusätzliche Jacke, das Messer, die Taschenlampe und das alte Handtuch sind meine ständigen Begleiter auf meinen Wanderungen. Meist gehe ich bekannte Wege mit einem mir vertrauten Menschen, doch heute gehe ich allein. Ich bin auf der Suche und nur Gott weis, wonach.

Hinter mir fällt die Haustüre leise ins Schloss. Die kühle Morgenluft riecht viel versprechend und lockt mich hinaus auf die Straße. Der Rucksack wärmt meinen Rücken und die schweren Schuhe geben mir den nötigen Bodenkontakt, den ich nach dieser Nacht gut gebrauchen kann. Ich genieße die Stille um mich. Keine Seele auf der Straße. Es ist Sonntag und wen wundert es, dass zu dieser Uhrzeit die meisten Häuser ihre Augen geschlossen halten.
Es tut gut,  zu laufen und ich atme ein paar mal tief durch, richte meinen Blick nach oben und sehe in die Richtung die mir das erste Sonnenlicht verspricht.  Die Spitzen der dunkelgrünen Tannen in der Ferne grenzen sich scharf vom Himmel ab. Das Leuchten hinter ihnen ist deutlich zu sehen. Die Häuser um mich werden weniger, die schmale Straße ist feucht vom Tau und der Frühnebel liegt über der Senke, von wo ich deutlich das gluckern des Baches hören kann.
Ich folge dem Geräusch, verlasse die Straße und gehe einen schmalen Pfad über den Waldboden, bis ich ganz in der Nähe des Wassers bin. Farne und Moose hängen voller glasiger Perlen. Ich stelle meinen Rucksack ab und pflücke eine der weißen Sauerkleeblüten und erfreue mich an der Wirkung, die sie in meinem Mund hervorruft. Vorsichtig klettere ich über den kleinen Abhang zum Bach hinunter. An dieser Stelle ist das Wasser etwas ruhiger. Ich tauche beide Hände tief ins Kühle und erfrische mein Gesicht und meinen Nacken. Nun bin ich endgültig wach. Als könnte ich besser sehen als vorher, spähe ich durch den Wald um mich.
Der erste Sonnenstrahl bricht durch die Stämme der hohen, schlanken Bäume und taucht diesen Raum um mich in ein flammendes Licht. Ein Schauspiel ohne Gleichen. Es ist, als wären die Konturen alles Sichtbaren mit einem Schlag vergoldet worden. Die Stimmen der Vögel hallen wie in einem Konzertsaal. Tautropfen glitzern wie Diamanten an langen Spinnfäden, Gräsern und Blättern. Ein Geschenk des Himmels. Normaleweise würde ich diese Zeit verschlafen.
Dankbar lächelnd nehme ich meinen Rucksack auf und schlage den Weg nach Süden ein. Der Steig ist schmal und windet sich  den Hügel hinauf. Es geht über Wurzeln und zerbrochenes Schiefergestein.
Während ich den Vögeln lausche lasse ich mein Gesicht von der Sonne wärmen. Wieder höre ich diesen Wortklang und diesmal fühle ich  mich nicht verfolgt, denn seinetwegen bin ich hier.



3
Mir war als käme es aus südlicher Richtung zu mir durch den Wald geflüstert. Folge ich deshalb dieser Richtung? Wie oft schon habe ich über dieses Wort nachgedacht.
Welche Bedeutung mag es haben? Werde ich ihm selbst eine geben? Nein, ich bin mir sicher, dass es etwas Eigenständiges ist, etwas Lebendiges.
Es verfolgt mich, als wolle es sich durch mich verwirklichen. Doch stets wirkt es erhaben, rein, heilsam und ich spüre deutlich, dass diese Gabe nicht  für mich allein bestimmt ist. Nichts hat mir in meinem Leben je mehr am Herzen gelegen, wie das Heil der Welt, so abgegriffen sich das mittlerweile anhören muss. Ich kann es nicht ändern, es ist mein sehnlichster Wunsch, dass Liebe und Achtung unter den Menschen lebendig wird.
Ich sehe die Menschenwelt verrohen unter den eigenen Einflüssen, die sie selbst erschafft. Wer sich diesen Einflüssen nicht entziehen kann liefert sich einem Geschehen aus, das ihn umgarnt, wie eine Spinne ihr Opfer. Doch wer ist diese Spinne? Sie zeigt sich nicht in einem Einzelnen, welchen man zur Verantwortung ziehen könnte. Diese Spinne hat Milliarden Beine und jedes gehört einem von uns. Wenn wir die Beine sind, wo ist dann der Kopf dieses Wesens? Wer steuert das Ganze? Immer wieder erfasst mich der Gedanke eines übergeordneten Bewusstseins. Nicht Gott, nein, ein Zwischending zwischen uns und dieser unendlich großen Kraft, die uns hat werden lassen.
Dieses kollektive Bewusstsein ist das Resultat unserer Gemeinschaft, unserer Art des Zusammenwirkens. Wenn ich daran denke, frage ich mich, welch düstere Wolke da wohl über unserer Erde schweben muss. Die Tatsache, dass es immer noch einige unserer Spezies gibt, die gewillt sind, diesem Planeten und seinen Geschöpfen im Guten zu dienen, lässt mir doch noch einen Funken Zuversicht.
So wende ich mich wieder meinem mit Tannennadeln gepolsterten Waldweg zu,  klettere über einige Felssteine hinauf und gelange so auf einen breiteren Wanderweg. Dieser Höhenweg führt mich in Richtung Süden über einen Hügel. Von dort aus sehe ich in ein Tal, sonnendurchflutet liegt es vor mir, wunderbar weit geöffnet und in seiner Mitte schlängelt sich die silberne Schnur eines kleinen, wilden Flusslaufes. Dort unten liegt mein Ziel. Ich kenne dieses Tal und weis, wenn ich hier meine Antwort nicht finde, weis ich nicht mehr, wo ich suchen soll.

Die Luft wird wärmer, ein Eichhörnchen kreuzt flink meinen Weg, und nach drei geschickten Sprüngen sitzt es auf der untersten Astgabel einer Buche, beäugt mich kurz, gibt einige knackende Laute von sich und vertieft sich sogleich in die morgendliche Toilette. Beneidenswert, diese Freiheit.
Endlich öffnet sich vor mir der Wald, eine Lichtung liegt einladend zwischen großen, knorrigen Eichen. Zwischen den Farnen ragen schwer behangen die kerzenförmigen Fingerhutstauden empor. Bienen summen in ihren rosigen Blütenkelchen und suchen nach Nektar.
Mein Weg führt über ausladendes Grasland in Richtung des kleinen Flusses. Dort angekommen glitzert mir die bewegte Wasseroberfläche ins Gesicht. Ich sehe mich um und denke an die vielen Male, in denen ich bereits hier gewesen bin. So manches Problem hat sich hier gelöst, manche Frage beantwortet. Lange habe ich mich nicht mehr so wohl gefühlt, wie in diesem Augenblick. Einige Meter entfernt liegt der Stamm einer großen Buche, diesen wähle ich  als Rastplatz, und lege meinen  Rucksack an seiner trockenen Sonnenseite ab. Meine Schultern verspannen schnell, ich drehe und dehne die Arme und allmählich läuft wieder genügend Blut durch die Gefäße.
Tief im Rucksack krame ich nach meiner Brotdose, dem Apfel und meiner Wasserflasche. Ich setze mich auf das  alte, rote Handtuch, das mich auf jeder Wanderung begleitet. Meist dient es als Fußabtreter, wenn ich aus den Gewässern steige, in denen ich mich nach langen Wandertouren erfrischt hatte.

4
Mit dieser Angewohnheit begann ich im tiefsten Winter, und habe es bis heute beibehalten. Seither war ich nicht einmal krank geworden.
Die Wurst auf dem Brot schmeckt verlockend, aber ich möchte meinen Proviant einteilen, ich habe noch viel vor mir. Das Wasser in meiner Flasche ist noch kühl und spült die restlichen Brotkrümel durch den Hals. Intensiv richte ich meinen bohrenden Blick auf die schnell dahin fließende Wasseroberfläche. Ich versuche die Augen still zu halten, den kleinen blaugrauen, schimmernden Wellen nicht zu folgen, dadurch entsteht ein eigenartiges Bild, ein Vorbeirauschen in einer starren Umgebung, so als würde ein Teil der Zeit angehalten, und ein Teil würde fließen. Es ist wunderbar, die Möglichkeit zu haben, solchen Betrachtungen nachzugehen.
Oft habe ich das Gefühl, zweigleisig zu sehen. Es ist schwer zu beschreiben, Vergangenheit und Zukunft scheinen  gleichzeitig vor mir aufzutauchen, vermischen sich und ergeben eine andere Form der Gegenwart. Ähnlich sieht nun dieses Bild vor mir aus, zweigleisig.
Ich versuche in diesem Erleben den Grund zu erahnen, der mich hier her geführt hat, kann jedoch nichts Brauchbares finden. Wärmend scheint mir die Sonne ins Gesicht, ich schließe die Augen und lausche der Stimme eines Vogels. Seit einigen Minuten schon singt dieses kleine Tier so atemberaubend schön und leidenschaftlich, hat er ein Weibchen, sie wird hingerissen sein.

In der Ferne höre ich knackende Geräusche, so als würde Holz zerbrochen, eine sonore Stimme murmelt etwas. Ich drehe mich um und sehe eine Gestalt mit einem Hund. Zielstrebig aber langsam kommen sie in meine Richtung, so als hätten wir uns verabredet.
Die Gestalt entpuppt sich als Mann höheren Alters, zumindest lässt dies das weiße Haar vermuten. Für einen alten Mann geht er erstaunlich aufrecht. Der große, schlanke Hund geht auffallend nah neben ihm, und weicht nicht von seiner Seite. Das Tier erinnert mich an einen Wolf. Der Mann hält einen Wanderstab in seiner rechten Hand, auch er trägt einen Rucksack, kommt aber aus der Entgegengesetzten Richtung des Tales.
Neugierig mustere ich die beiden, während ich wieder genüsslich auf meinem Wurstbrot kaue. In diesem Tal geschehen die seltsamsten Dinge. Mich überrascht der Anblick dieser außergewöhnlichen Gestalten nicht. Dass sie mich im Visier zu haben scheinen, wundert mich jedoch ein wenig.

Ein entwaffnend freundliches „Guten Morgen“ strahlt mir aus dem bärtigen Gesicht entgegen.
„Dürfen wir bei Ihnen Platz nehmen?“ seine Stimme klingt eigenartig bezaubernd.
„Natürlich dürfen Sie.“ Ich beobachte ihn offenherzig, während er seinen Rucksack ablegt und es sich auf meinem Baumstamm gemütlich macht.
Der Hund legt sich zu seinen Füßen, sieht mich kurz aber intensiv an, um dann seinen schönen Kopf auf die schlanken Pfoten zu platzieren. Die aufrechten Ohren folgen den Geräuschen der Wiese.
„Sie sind oft hier.“ Während er es ausspricht sieht er weit in das Tal hinein.
„Woher wissen Sie das? Ich habe Sie hier noch nie gesehen.“ Der Mann  lächelt wissend und  lange richtet er seine Augen auf die meinen. Ich halte seinem Blick stand, dann mustere ich sein Gesicht. Er erinnert mich an meinen Großvater. Allerdings ist dieser schon in jungen Jahren verstorben, wie komme ich also darauf? Sind es die Augen, die hohen Wangenknochen, ich weis es nicht. Dieses Antlitz, ich muss es so nennen, zeigt auf eindrucksvolle Weise, Linien, die einem Gemälde gleich, von vielen Leben zu erzählen scheinen. Geschichten tauchen auf, gruppieren sich um seine Augen, umspielen seine Lippen und verschwinden hinter einem sympathischen, grauweißen Bart. Die Lachfalten werden tiefer und sein Schmunzeln erweicht mein Herz. 



5
„Erkennst du mich nicht?“ fragt er, als wären wir alte Bekannte. Warum duzt er mich plötzlich? Doch seine Augen strahlen derart liebevoll, dass ich es ihm nicht verübeln kann. Außerdem macht er mich neugierig.
„Woher soll ich Sie kennen?“ Ich kann ihm wohl kaum sagen, dass er mich an meinen Großvater erinnert.
Er hält den Kopf etwas schräg, und neugierig mustert er nun mein Gesicht, es mag Bände sprechen, aber seinen Geschichten kann es sicher nicht das Wasser reichen.
„Darf ich?“ fragt er und zeigt dabei auf meine Hand. Ich reiche ihm die Rechte und er dreht sie so, dass er in die Innenfläche sehen kann. Lange folgt er den Linien tastet sie ab, und besieht sie sich von allen Seiten. Er lächelt als hätte er gefunden, wonach er suchte.
Wieder sieht er mich eindringlich an, behält meine Hand in seiner, und ich fühle mich etwas unbehaglich bei so viel unerwarteter Nähe. Ratlos muss mein Blick sein, denn er lässt meine Hand los, und beginnt mit dem Finger  Zeichen über meiner Stirn in die Luft zu malen. Ich folge seinen Linien und verstehe nichts. Langsam wird es peinlich.
„Erkennst du es nicht?“ Der alte Mann wirkt amüsiert. Ich versage völlig, nichts erkenne ich. Doch, da ist etwas in mir, was ich nicht einordnen  kann, sich jedoch zu regen beginnt. Irgendetwas an diesem Menschen und seinen geheimnisvollen Gesten ist mir vertraut. Es ist, als würde sich ein Teil von mir erinnern wollen, der andere jedoch blockiert.

„Ich bin mir nicht sicher. Wer bist du?“ Er lächelt wieder, sagt es mir aber nicht. Seine Augen sind für einen älteren Menschen relativ groß, und wirken in ihrem hellen Graublau tief und ebenso bewegt und geheimnisvoll wie das Meer. Solche Augen habe ich bei einem Menschen noch nie gesehen. Sein Kleidungsstil scheint etwas veraltet. In einer braunen Cordhose verschwindet ein dunkelgrauer Pullover, das ganze hält ein schwarzer Ledergürtel zusammen. Stabiles Schuhwerk und ein alter Rucksack mit Lederriemen, mehr nicht. Ach ja, der Stock, ein aus Holz geschnitzter Stab, kunstvoll gestaltet. Selbst der Hund ist anders als andere Hunde. Ich sehe dem Mann ins Gesicht.
„Ich habe das Gefühl, dich zu kennen, weis aber beim besten Willen nicht, woher, denn ich bin mir sicher, dich noch nie gesehen zu haben.“
„Ich habe dich gesehen, weit bevor ich dich gesehen habe.“ Wieder sieht der Mann in die Ferne. Wie meint er denn das nun wieder? Er wird mir immer mehr zum Rätsel. Dabei kam ich, um Antworten zu finden. Allmählich beginne ich Verknüpfungen zu bilden zwischen dem Einen und dem Anderen. Ich sehe ihn eindringlich an.
„Woher kommst du?“ Ich hoffe, er wird mir diese Frage so beantworten, dass ich mich dabei wie ein normaler Mensch fühlen kann. Weit gefehlt.
„Von weit her“, ist alles, was er mir gönnt. Tut er nur so geheimnisvoll, oder ist er es tatsächlich? Weshalb unterhält er sich mit mir, wenn ich nichts von ihm erfahren darf?
Einen Versuch wage ich noch, „wie weit?“
„Sehr weit.“ Der Alte betrachtet mich mit so unverhohlener Neugier, dass ich nicht anders kann, als seine spärlichen Antworten als Herausforderung anzunehmen.
Nun gut, ich beschließe, ihn in den Grund meiner heutigen Wanderung mit ein zu beziehen, setze mich etwas seitlich, um ihn besser ins Blickfeld zu rücken.

„Ich bin auf der Suche nach etwas. Weist du, was ich meine?“  Langes Schweigen. Sein Blick schweift über das Grasland und trifft auf mich.
„Du hast es bereits gefunden.“ Erstaunt sehe ich ihn an. Weis er nun, wovon ich rede? Woher will er wissen, dass ich es gefunden habe, wenn ich selbst nicht einmal weis, was  genau ich suche? Das Ganze wird verwirrend und ich weis nicht, wer hier wirklich neben mir sitzt.


6
Vielleicht ist er einfach nur etwas durcheinander, in seinem Alter wäre das nicht außergewöhnlich, sehe ich aber in seine Augen, kann ich keinerlei Verwirrung finden. Ganz im Gegenteil, er scheint genau zu wissen, wovon er spricht, vor allem was er von mir will.  Wieder betrachtet er mich auf seine vergnügte Weise.
„Es wundert mich.“ Der Mann bricht den Satz einfach in der Mitte ab, und schaut vor sich hin. Das ärgert mich.
„Was wundert dich?“ frage ich etwas ungeduldig.
„Alles“, seine Stimme klingt, als würde er mit den Worten spielen, wie ein Kind mit Bausteinen, „alles, was ich sehe, was mir begegnet, ich wundere mich einfach.“ Er lächelt mich an und scheint es schön zu finden, sich über alles wundern zu können.
Doch dann wird er etwas konkreter, „es wundert mich, dass du mich nicht erkennst.“
Hätte er das nicht einfacher formulieren können?
„Du sagst, ich hätte gefunden, wonach ich suchte. Was meinst du damit?“ Erwartungsvoll sehe ich ihn an. Er antwortet nicht.

Er beugt sich nach vorn, schiebt seinen Hund etwas beiseite, als wüsste er, was darunter zu finden wäre, hebt zwei kleine Steine auf und legt sie auf den Buchenstamm zwischen uns. Ein weiser und ein schwarzer Stein. Dabei wirft er mir einen erwartungsvollen Blick zu.
Mein Herzschlag erhöht sich, ich kenne diese Situation, weis allerdings nicht woher.
„Was bedeuten diese Steine?“ Allmählich fühle ich eine ungewöhnliche Spannung in mir und werde ein wenig unsicher. Doch die Faszination, die von diesem Menschen ausgeht, lässt mich dieses Gefühl schnell wieder vergessen.
„Was fällt dir an diesen Steinen auf?“ Er macht es mir nicht leicht. Ich sehe sie mir noch einmal genauer an und das Einzige, was mir wirklich auffällt ist, dass sie gegensätzlich sind.
„Sie stellen Gegensätze dar.“
„Richtig. Gäbe es diese Gegensätze nicht, würdest weder Du noch ich existieren. Dieses Wissen sollte dir vertraut sein.“ Der alte Mann sitzt erwartungsvoll neben mir, der Hund hebt seinen Kopf und sieht nach seinem Herrn. Dieser krault ihm ein wenig den Pelz, und das Tier ist wieder zufrieden.
Ich erinnere mich an meine Jugendzeit. Während andere sich abends auf der Straße trafen, saß ich in meinem Zimmer und schrieb, versunken in tiefste philosophische Betrachtungen, den Sinn der Gegensätze nieder. Damals konnte ich nicht begreifen, wofür es solch gegensätzliches wie Hass und Liebe geben muss, doch bald stieß ich auf die Erkenntnis, dass ohne die Finsternis ich das Licht nicht hätte erfassen können.
Fügte ich gegensätzliches zusammen, löste sich alles in ein neutrales Sein auf. Leben braucht jedoch diese beiden Pole, um in Schwingung zu geraten, und dieses Leben tut nichts anderes, als ständig diesen Ausgleich herzustellen, zwischen dem Sein des Einen und dem nicht Sein des Anderen.
Ich war Mitte zwanzig, als ich endlich diese Erkenntnisse zusammengetragen hatte.
„Ja, du warst sehr jung, für solches Wissen, doch was sagen die Jahre eines Erdenlebens wirklich aus? Sie sind nichts, gegen die Ewigkeit.“ Im Augenblick komme ich in den Genuss der Verwunderung, der Alte scheint genauen Einblick in meine Gedankengänge zu haben, doch gespannt lausche ich weiter seinen Worten.
„Ich selbst bin älter, als Du es dir jemals vorstellen kannst, Du jedoch bist noch weitaus älter als ich. Der Unterschied zwischen Dir und mir besteht darin, dass Du natürlicher bist als ich.“
Ich sah ihn verständnislos an.
„Was meinst Du mit natürlicher?“

7
„Du bist der Erde näher als ich. Ich bin aus einem anderen Stoff, und werde diese Erscheinungsform bald wieder verändern.“ Sein Blick trifft mich von der Seite, ernst, erwartungsvoll. Ein Teil in mir sagt, dieser Alte ist völlig durchgeknallt, der andere sagt, er könnte die Antwort auf meine Fragen sein. Die Antwort auf das, was ich hier suche. Ich zögere noch.
„Was willst du von mir, wer bist du?“ Meine Stimme wirkt drängend, das Gefühl folgt.
Der alte Mann atmet einmal tief durch,  holt einen kleinen Block aus seinem Rucksack und aus seiner Hosentasche kramt er einen abgenutzten Bleistiftstummel. Mit diesem kritzelt er etwas auf die erste Seite des Blockes. Ich lese, was er geschrieben hat:

„VOM MEER SIND WIR HER
MEER WIRD MEER
GEHEN WIR DARÜBER
SO WISSEN WIR WER.“

HTMMC

Ratlosigkeit scheint sehr dominant mein Gesicht zu beherrschen. Ich verstehe gar nichts mehr. Er muss meine Verzweiflung bemerkt haben, denn er neigt den Kopf zur Seite, lächelt mich an und sagt:
„Es kommt der Tag, da wirst Du es verstehen.“ Er macht eine längere Pause, schaut auf den dahin fließenden Fluss und nach einer Weile spricht er weiter.
„Kennst Du den, der übers Meer gegangen ist?“
„Ach, du meinst Jesus? Was hat er damit zu tun?“
Wieder kramt er etwas aus seinem Rucksack. Eine Spielkarte. Er legt sie in meine Hand, Herz sieben. Entrüstet sehe ich dem alten Mann ins Gesicht, „Jesus brauchte auch keine Spielkarten, um sich verständlich zu machen.“
„Aber um sein Gewand haben sie damit gespielt.“ Die Stimme des Mannes wurde ernst, fast etwas verbittert. Aber waren es nicht Würfel? Woher will man das heute so genau wissen?
Ich drehe die Karte herum, sehe sie mir von allen Seiten an und frage mich, wie lange ich das jetzt noch mit machen soll. Doch dann erinnere ich mich an meine alten Bücher, Wissen, das ich längst verdrängt habe, weil es sich im Alltag so schlecht davon leben lässt. Das Herz, natürlich, das Symbol für Liebe und die Sieben könnte die siebte Bewusstseinsstufe bedeuten oder das siebte Energiezentrum, unser so genanntes Scheitelchakra. Eigentlich wollte ich an diese Dinge nicht mehr erinnert werden. Wie lange habe ich verzweifelt nach Beweisen gesucht und keine gefunden.
Ich hatte vergessen zu leben vor lauter Suchen. Die Tatsache dass sich immer wieder eine Art Trichter durch meine Schädeldecke drehte und ich das Gefühl hatte, vier oder fünf Meter groß zu sein hat mir als Beweis nicht genügt, also habe ich das mit dem Trichter endgültig vergessen. Bis zu dem Tage als dieses Wort sich in mein Leben schlich, eines Abends beim Warten.
„Sprich es ruhig aus, dein Wort.“ Und er sieht wieder bedeutungsvoll in die Ferne.
Jetzt reicht es! Ich stehe auf und gehe ein Stück weg. Ich muss atmen, mein Herz klopft auffallend schnell. Der Hund hebt den Kopf und sieht nach mir. Lange blickt er mich mit seinen hellbraunen Augen an, als wolle er sagen, geh jetzt nicht

8
Ich halte die Karte in der einen Hand, den Block in der anderen. Ich sehe von der Sonne geblendet über den freundlich dahin fließenden Fluss. Vom Meer sind wir her. Was bedeutet das? Warum spricht er so wenig, er formuliert die Worte, als hätte er die Fähigkeit der Sprache nur geliehen, für kurze Zeit. Er wirkt, als wäre das irdische Leben für ihn ungewohnt schwerfällig. Irgendwie kann ich es nachvollziehen.

Das Wasser des Flusses läuft unaufhaltsam an mir vorüber. Ich muss unwillkürlich an Hermann Hesses Buch Siddhartha denken, der Weg Buddhas bis zur Erleuchtung am Fluss. Wie oft habe ich dieses Buch gelesen, wie oft versucht diese Erleuchtung zu verstehen, bis ich begriff, Erleuchtung versteht man nicht, man erfährt sie, und bis dahin kann es ein verdammt weiter Weg sein.
Vom Meer sind wir her. Sind wir nicht alle aus derselben Kraft entsprungen, einem Meer gleich, welches sich in unzählige Tropfen zerteilen kann und dennoch Eins ist. Ein Meer, in dem jede Art von Leben möglich ist,  dessen Wasserspiegel die Sonnenstrahlen durchbrechen und für Wachstum und Leben sorgt.
In jedem einzelnen Tropfen existiert eine ganze Welt, er wird verschlungen und wieder ausgeschieden, zerteilt sich und sammelt sich um wieder Anderes zu verschlingen. Auf diese Weise sind wir ewig verbunden mit dem Leben.  Selbst in den finstersten  Tiefen lebt, ja, der Geist Gottes, anders kann ich es nicht ausdrücken. Nichts anderes wird diesem Wunder gerecht, als das Wort Gott.
Meer wird Meer. Wir entspringen aus derselben Kraft, zerteilen uns zu Milliarden Einzelwesen, um während des Sterbens wieder zu einer Einheit zu verschmelzen. Tun wir es nicht schon zu Lebzeiten? Unser kollektives Bewusstsein? Gehen wir darüber, so wissen wir wer. Ja, wenn wir alles gelebt haben, was es zu leben gibt, wenn wir dieses Meer durchwandert haben, oder gar überwunden,  wissen wir, wer wir wirklich sind. So einfach ist das.

Fragend sehe ich den Alten an, der immer noch auf dem Buchenstamm sitzt und seinem Hund sanft über den Kopf streicht. Unsere Blicke treffen sich.
„Ja, genau das ist es. Und, was hält diese Milliarden Einzelwesen zusammen?“ Er liest meine Gedanken. Jetzt bin ich mir sicher. Ich sehe auf die rote Karte. Die Liebe. Sie führt uns zur Vollendung, durch alle  Ebenen unseres Seins.
Doch was genau ist diese Liebe? Ich lasse die Arme sinken, die Hände umfassen Block und Karte in der Hoffnung, ihre Inhalte würden sich verbinden.
Nun setze ich mich wieder auf den Buchenstamm. Ein Zitronenfalter weicht meiner Erscheinung. Der alte Mann neben mir riecht irgendwie nach Holunderblüten. Doch was nutzt mir der Holunder, ich weis nicht weiter. Das Thema Liebe hat mir in meinem Leben schon so manche Sorge bereitet. Warum schweigen wir? Kann er mir nicht einfach das Leben erklären. Etwas traurig sehe ich zu ihm rüber.
„Ich denke, wir Menschen sind zur Liebe nicht fähig.“ Ich fühle einen Kloß im Hals, höre ich da etwa Enttäuschung in meiner Stimme?
„Was erwartest du denn von den Menschen?“ sanft schwingt seine Stimme zu mir herüber.
Ach, was soll ich ihm sagen, es erscheint mir etwas befremdlich, von meinen philosophischen Gedanken plötzlich in triviales Alltagsgeschehen überzugehen. Und doch, was erwarte ich eigentlich von unserer Spezies? Ich strecke meine Beine aus und nehme einen Schluck Wasser. Die Luft ist warm geworden und über der Wiese flirren Insekten.

„Ich wünsche mir, dass sie anders miteinander umgehen, dass sie Achtung voreinander haben und vor allem anderen Leben auch. Sieh dir doch die Welt an, ich finde es erschreckend an die Zukunft zu denken.“ Mit einer ausladenden Handbewegung unterstreiche ich das Gesagte.

9
„Wie viele gibt es in unserem Land, die es kein bisschen interessiert, was um sie herum vorgeht. Sie starren in irgendeinen Bildschirm und merken nicht, was während dessen mit ihnen geschieht.
Die Schwächeren auf dieser Welt müssen unter den Stärkeren leiden, so einfach ist das. Und das Leid wird immer dramatischer.“ Allmählich wird mir heiß, selbst der Hund wird unruhig. Die Augen des Alten verfolgen meine gestikulierenden Hände und er lächelt mitfühlend.
„Ich wies, dass ich die Welt nicht verändern kann, und die, welche das Leid verursachen nicht aufhalten kann, aber was können jene tun, die dieses Spiel nicht mitspielen wollen? Wo ist noch Platz für sie?“
Nun stehe ich auf, schwinge ein Bein über den Baumstamm und setzte mich wie ein Reiter auf mein Holzross, dabei sehe ich dem Fremden geradewegs ins Gesicht. Amüsiert beobachtet er meinen inneren Aufruhr.
„Weist du, dass ich mich einsam fühle, mitten unter einer großen Menschenmenge, inmitten meiner Nachbarn, die im Grunde zwanzig Meter von mir entfernt, des Nachts im Bett, ebenso wie ich, ihren Träumen nachgehen. Man ist sich nicht einmal bewusst darüber, dass es so ist. Es interessiert uns nicht mehr, was der andere tut, wie nah er uns wirklich ist.
Wir umarmen uns unter Freunden, Küsschen, Lächeln, und zeigen nur Fassade. Wir beschränken uns auf SMS und E-Mail, auf diese Weise stört uns niemand, man bleibt schön unpersönlich in Kontakt. Was sich jedoch zwischen den Menschen abspielt, während sie tippend vor dem Bildschirm sitzen, entbehrt jeglicher Realität. Ich mache mir ein Bild vom Anderen, und dieses gestalte ich mir so, dass es in mein Traumschema passt, mit der Wirklichkeit hat das nichts mehr zu tun. Gibt es eine Gegenbewegung? Gibt es junge Menschen, die genau das nicht wollen? Was ist mit den Alten? Wenn sie zu nichts mehr taugen,  steckt man sie in Heime. Was wird aus ihnen? Eingepfercht in kleine Zweibettzimmer, ein Mensch, der sein Leben lang gearbeitet hat, für die Gesellschaft und die Familie alles gegeben hat und nun gebrechlich, ja zerbrochen liegt und ausgeliefert ist, jedem, der ungefragt sein Zimmer betritt. Ist das der Lohn für ein langes, mühseliges Leben?
Schau dir unsere arbeitende Bevölkerung an. So manchem graut es sonntags schon vor dem Montag. Der Großteil lebt in Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, Haus und Hof aufs Spiel setzten zu müssen. Wie viele haben keine Arbeit mehr, ertränken ihren Kummer in Alkohol und Drogen. Eltern lassen ihre Kinder verhungern, oder schlagen sie tot. Der Rest frisst sich krank. Die Großen schänden die Kleinen. In anderen Ländern herrscht Armut, Krieg und Unterdrückung und wir, in unserer so genannten Wohlstandsgesellschaft leben auch noch auf deren Kosten!“ Ich atme ein paar Mal tief durch, setze mich wieder seitlich auf den Stamm und strecke meine Beine aus. „Das, was wir alle auf dieser Welt gemeinsam haben, ist ein riesengroßes Ego und mit dessen Hilfe beuten wir diesen Planeten aus und all die anderen Geschöpfe, die mit uns hier leben. Sind wir nicht ein Haufen kleiner Scheusale?“ Mit verbitterter Miene sehe ich den Alten an. Sein Gesicht wirkt jetzt besorgt. Der Hund steht auf, legt seinen Kopf  Schwanz wedelnd auf die Beine seines Herrn und sieht zu ihm auf. Dieser streicht ihm zärtlich über das graue Fell. Zufrieden setzt sich der Hund wieder ins Gras und beobachtet die Insekten über der blühenden Wiese. Der Fluss gurgelt gemütlich vor sich hin. Ich nehme einige Schluck Wasser aus der Flasche. Warum erzähle ich all das diesem Fremden. Was ist nur los mit mir?
„Die Spinne hat Milliarden Beine, und ein Bein hasst das Andere. Wie soll sie da vorwärts kommen?“ Er spricht langsam und gedehnt. Er weis alles, was in meinem Kopf existiert. Erstaunt sehe ich ihn an. „Woher weist du, was ich denke?“ Meine Antwort fühlt sich resigniert an.


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 „Ich kenne dich. Im Grunde kenne ich alle Menschen. Es ist eine andere Art des Kennens, als du sie gewöhnt bist. Ihr Menschen begegnet euch, macht euch ein Bild vom Anderen, und das nennt ihr dann kennen. Ihr glaubt etwas über den Anderen zu wissen, bleibt aber immer voneinander getrennt. Niemals kennt ihr euch wirklich. Wenn du mich fragst, „wer bist du“, was soll ich dir dann antworten? Stell dir vor, ein Bein der Spinne fragt das andere, „wer bist du?“
Sollten sie nicht voneinander wissen? Wie soll die Spinne laufen, wenn ihre Beine sich nicht kennen,  oder sich gar falsche Vorstellungen voneinander machen? In unserem Falle ist es so, dass sich die Beine der Spinne gegenseitig blockieren, und nicht nur das, sie vernichten den Boden, auf dem sie gehen.  Am schlimmsten ist, sie wissen nicht um den Körper den sie gemeinsam tragen. Würden sie darüber wissen, sie hätten ein anderes Bild von sich selbst und von ihrem Nächsten.“
Der Alte steht auf, streift seine Hosenbeine glatt und reckt sich genüsslich. Der Hund tut es ihm gleich. Er stapft durch das Gras Richtung Fluss. Seine Gestalt wirkt erhaben über all dies Irdische, das ich vorhin in einem Wortschwall von mir gegeben habe. Ich bin nicht anders als all die anderen, ich rede übel, verurteile und habe schlechte Gefühle, wenn ich an meine Mitmenschen denke. Bin ich nicht auch ein Bein, das seinen Nächsten nicht erkennt und nicht weis, wofür es lebt?
Der Mann hockt am Flussufer und spielt mit einem Stock, den er über die Wasseroberfläche streift, dabei erheben sich Wellen und dicke Tropfen springen. Der Hund sieht neugierig zu. Langsam spüre ich Hunger und ich krame nach meinem angebissenen Wurstbrot. Die Wurst ist glasig von der Wärme, aber sie schmeckt immer noch.

„Gehen wir ein Stück gemeinsam?“ ruft er mit freundlicher Stimme zu mir rüber.
Wir packen die Rucksäcke auf und gehen in die Richtung, aus der er und sein Hund gekommen waren. Das Brot verschwindet allmählich in meinem Magen und der Hund schielt verhalten zu mir rauf. Selten habe ich ein so aufmerksames, besonnenes Tier erlebt, und ich verstehe einiges von Hunden.
„Ich würde dich gerne mit deinem Namen ansprechen, wie darf ich dich nennen?“ frage ich meinen Begleiter vorsichtig.
„Wie würdest du mich nennen wollen? Such dir etwas aus.“ Er macht es mir wirklich nicht einfach.
„Was bedeutet das HTMMC unter dem Satz den du aufgeschrieben hast? Sind es Initialen?“
Er lacht und sieht mich mit einem schelmischen Grinsen an. „Ich hatte schon viele Namen, ich war an allen Orten dieser Welt, ich habe alles gemacht was Menschen tun können. Jetzt habe ich keinen Namen mehr, ich brauche keinen.“ Wieder sieht er mich lächelnd an. Aber über diese geheimnisvollen Buchstaben sagt er nichts.
„Ich werde dich Josef nennen, so hieß mein Großvater, und aus einem mir unerfindlichen Grund erinnerst du mich an ihn.“
„Das gefällt mir.“ Josef macht ein zufriedenes Gesicht. Schweigend gehen wir nebeneinander her. Die Sonne steht hoch am Himmel und unsere dahin schreitenden Körper werfen kurze Schatten auf den Weg. Wir gehen weiter den Fluss entlang, vor uns flirrt das weite Tal in der Sonne. In der Ferne sind in blaugrauem Dunst die ersten Erhebungen der höheren Berge zu sehen. Dörfer liegen anheimelnd in den näheren Tälern, schmiegen sich an die Hänge der grünen Hügel und geben hin und wieder Geräusche der Zivilisation frei. Josefs Gegenwart ist angenehm und beruhigend. Der Hund läuft mit hängendem Kopf vor uns her und streift die Gerüche des Wegrandes durch seine Nase, um Botschaften anderer zu entziffern.



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„Willst du mir davon erzählen?“ unerwartet holt mich die Stimme des Alten aus meinen Naturbetrachtungen.
„Was meinst du?“ frage ich erstaunt.
 „Na, du weist doch sehr wohl, wovon ich spreche. Dein Wort. Deshalb bist du doch hier, oder nicht?“ Ich hätte damit rechnen müssen. Er hat es schon einmal erwähnt. Ich brauche sicher nicht zu fragen, woher er davon weis. Ein tiefer Atemzug beruhigt ein wenig mein schneller schlagendes Herz.
„Ja, es gibt dieses Wort, es flüstert mir seinen Namen zu und ich kann ihn nicht verstehen. Es verfolgt mich seit fast einem Jahr. Zu gerne möchte ich wissen, welche Bedeutung es hat, was will es von mir?“ Erwartungsvoll sehe ich zu Josef rüber. Dieser bleibt stehen, zeigt Richtung Flussufer und geht vor mir her durch hohes Gras,  bahnt uns einen Weg frei und wir erreichen ein sandiges Uferstück. Das Wasser fließt in einem Bogen an uns vorüber. Links und rechts von uns stehen hohe Schilfgräser. Wir setzen uns auf einen umgestürzten Baum, der mit seiner Krone noch im Flusswasser liegt. Die feinen Äste schwingen mit den Wellenbewegungen mit und bringen die größeren damit in leichte Rotation, die man im Stamm deutlich fühlen kann. Die Blätter einer Birke spenden uns etwas Schatten.
„Die Menschen existieren schon einige Zeit auf dieser Erde, und immer wieder hat es schwere Zeiten gegeben, und man glaubte, die Menschheit würde untergehen. Es gab Kriege, Zerstörung aber auch Zeiten des Wohlstandes, des Friedens und des Überflusses. Wurde das Ungleichgewicht zu groß, ergriff die Natur ausgleichende Maßnahmen. Denke nicht, dass die Reaktion eines Menschen nicht der Natur entspräche, der Mensch unterliegt ebenso deren Gesetzen wie alles andere auch. In schweren Zeiten gab es immer wieder große Geister, welche den Verirrten auf einen begehbaren Weg zurück verhalfen. Lebende Wesen, gleich welcher Art unterliegen einer ständigen Veränderung. Ihr nennt das Entwicklung. Hilfe in der Not muss sich dem Entwicklungsstand derer angleichen, denen geholfen werden soll. Heute kann man nicht mehr dieselben Mittel nutzen wie vor zweitausend Jahren, auch wenn die Inhalte der Botschaft oft die gleichen sind. Du fragtest, wo denn all jene blieben, welche sich an  diesem Spiel nicht mehr beteiligen wollten. Die Menschen werden mehr, die Welt wird immer kleiner. Ihr braucht neue Möglichkeiten. Das, was ihr einst Werte nanntet, was bedeuten sie euch noch? Sie passten irgendwann nicht mehr in euer Denkgefüge, so habt ihr sie nach und nach verlassen. Doch ohne Werte, ohne Regeln werdet ihr nicht friedlich miteinander leben können. Also, was wollt ihr tun?“ Erwartungsvoll traf mich Josefs Blick.
Glaubt er, ich könne ihm die Frage der ganzen Menschheit beantworten?

„Josef, ich glaube, wir haben genug Regeln und Gesetze in unserem Land, sicherlich viel zu viele. Sie engen uns ein in unseren Freiräumen, in unserer Kreativität und zwingen uns all zu oft, sie zu missachten. Man hat uns tausende von Jahren Dogmen aufgedrängt, und immer noch wird genau das in vielen Teilen der Welt getan. Menschen werden immer wider bestraft, wenn sie sich nicht der Obrigkeit unterwerfen. Unsere Obrigkeit ist ein gigantisches Wirtschaftsgefüge, das uns mit Hilfe seiner Medien lenkt wie eine Herde Rinder. Ist das der Sinn der Werte und Regeln? Wir sind doch keine Kinder mehr!“ Immer wieder machen mich diese Gedanken wütend.
„Dann werdet endlich erwachsen und übernehmt Eigenverantwortung. Wie viele von euch glauben immer noch, irgendein Gott oder alle anderen die euch umgeben, seien verantwortlich, für alles was mit euch geschieht. Das ist sehr bequem. Ihr seid nicht einmal bereit darüber nachzudenken, was das Wort Gott überhaupt bedeuten könnte. Ihr nehmt ungefragt hin, was eure Kirchenoberhäupter euch vor die Füße legten, und stellt es kaum in Frage. Ihr beschwert euch darüber, wenn Gott nicht so funktioniert, wie ihr euch das in euren kleinen Gehirnen vorgestellt habt, und wertet ihn am Ende ab als Hirngespinst.


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Wenn es Gott nicht ist, so findet ihr garantiert die Schuld bei einem Anderen, doch dass jeder selbst verantwortlich ist für das was in ihm vorgeht, das vergesst ihr dabei. So manches Leid könnte verhindert werden, würdet ihr selbst die Initiative für euer Leben ergreifen. Ihr seid wie Kinder, die auf einen Großen warten, der ihnen die Lasten trägt, und die Entscheidungen fällt.
Erwachsen werden heißt, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, darin einbezogen sind auch all eure Gedanken und jeglicher Glaube. Ihr trachtet nach hohen Künsten, wollt weit hinaus in den Weltraum fliegen, und seid nicht fähig, eure eigenen Gefühle zu beherrschen. Diese Unfähigkeit ist schuld an euren Kriegen und all eurem Leid.
Gefühle können wunderschön sein, tief und innig, und sie haben ihren Sinn,  aber die meiste Zeit lasst ihr euch von ihnen tyrannisieren. Das Ego, von dem du sprichst ist sehr eng verbunden mit eurer Gefühlswelt, in erster Linie jedoch mit Angst. Man will etwas  und kann es nicht bekommen. Was man will hat jedoch Bedeutung und hängt zusammen mit der Angst, das Bedeutende zu verlieren.  Auf den Mangel folgt eine Gegenreaktion und immer sind diese Reaktionen mit unseren Emotionen verbunden. Es werden Erfahrungen durchlebt, verknüpft mit Gefühlen und Gedanken und all das speichert sich im menschlichen Gehirn, wird allmählich zum Weltbild, ja zur eigenen Realität.

Und glaube mir, deine Realität speichert sich nicht nur in deinem Kopf, jede Zelle trägt ein Stück deines Weltbildes, deines Glaubens in sich und richtet sich danach.
Schau dir deinen Körper einmal genauer an, du wirst erkennen können, dass sich in deiner Körperhaltung deine Lebenseinstellung widerspiegelt. Dort, wo dein Körper nicht mehr funktioniert, da läuft auch dein Denken in falsche Bahnen. Du bist, was du glaubst, ganz einfach.“

Ich sehe auf das dahin fließende Wasser, meine Gedanken laufen ebenso schnell an mir vorüber. Ein wenig komme ich mir vor, als säße ich in der Schule und höre mir die Ausführungen meines Lehrers an. Ich fühle mich etwas zurechtgewiesen, und das gefällt mir gar nicht. Immerhin bezieht er mich mit ein, in seine Menschheit.
Hatte ich erwartet, dass ich die große Ausnahme bin? Glaubte ich etwa, er hielte mich für etwas Besonderes?
Auf der spiegelnden Oberflächen des Wassers treibt ein alter Stamm, durchlöchert, morsch, an uns vorüber, wie ein Floß schaukelt er mit den Wellen. An einem seiner abgebrochenen Äste hängt ein kleiner, schmutziger Plastiksack.
Im Grunde hat der alte Mann Recht, wir beherrschen unsere Gefühle nicht. Es heißt ja nicht, dass wir diktatorisch mit ihnen umzugehen haben, sie gar unterdrücken sollten, sondern einfach selbst  bestimmen, was wir wann fühlen. Wer hat das Recht, darüber zu bestimmen, wann ich mich schlecht zu fühlen habe, wer darf meine guten Gefühle zerstören? Niemand. Aber sagte er nicht, wir ließen uns von unseren Gefühlen beherrschen? Bricht ein ungutes Empfinden über mich herein, denke ich dann nicht immer, es käme von irgendwoher. Es bricht nicht über mich herein, ich produziere mein Fühlen selbst, ich fühle, weil ich fühlen will, weil ich es zulasse, schüre, oder ersticke. Man ist sich einfach nicht im Klaren darüber, man überlässt die eigenen Emotionen dem Zufall und das Gehirn mit seinen Gedanken scheint der Zufallsgenerator zu sein. Die Struktur jedoch, nach welcher sich das Empfinden richtet, die ist bereits verankert, und das habe ich durch meine immer wieder kehrenden Gedanken selbst produziert. Fast bin ich ein wenig stolz auf meine Einsichten.
Nur was hat das jetzt mit dem Ego auf sich? Fragend sehe ich den Mann neben mir an, der verträumt an seinem Wanderstock herumkratzt.

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„Was ist mit dem Ego, wofür brauchen wir das?“ An meiner Frage klebt die Hoffnung, dass er mein Selbstwertgefühl am Leben lassen wird.
„Das Ego braucht der Mensch und jedes andere Geschöpf zum Überleben. Das Leben wehrt sich gegen den Tod, eine simple Sache, nicht war? Der Mensch mit seiner ausgeprägten Verstandesarbeit macht aus dieser Fähigkeit etwas mehr als sie ursprünglich einmal war. Er verwendet diese Gabe auch für  andere Ziele, zum Beispiel um sein Besitzstreben zu befriedigen oder sein Bedürfnis nach Macht oder Anerkennung auszuleben. Das Ego ist eine große Kraft. Sie befähigt uns zu großen Leistungen. Doch wie alles auf der Welt kann man Dinge nicht nur gebrauchen, sondern auch missbrauchen. Der Missbrauch beginnt dort, wo Leben vorsätzlich geschändet wird. Wie du eine solche Schändung definieren magst, musst du selbst entscheiden. Aber, ohne dein Ego kannst du nicht existieren.“

Jetzt bin ich aber froh! Phu, ich dachte schon er raubt mir jegliche Überlebensstrategie. Ganz im Gegenteil, er lässt mir den kleinen Schweinehund. Ist das Streben nach Besitz oder nach Macht, nach Liebe und Anerkennung nicht auch nur eine Art Überlebensdrang? Wenn dieser Drang jedoch so groß ist, dass er derart weit über das bloße Überleben hinausgeht, wie viel Angst muss dann hinter all dem stecken, was ein Mensch tut. Habe ich zu schnell geurteilt über das, was hier geschieht? Wie viel Verständnis braucht diese Gesellschaft? Ich wende mich Josef zu. Er scheint mich in meinen Gedanken zu beobachten, hebt die Augenbrauen und lächelt mich wieder freundlich an.

„Josef, je mehr ich über all das nachdenke, desto komplizierter wird es. Wenn ich anfange, alles verstehen zu wollen, wie kann ich dann eine Lösung finden? Wenn ich alles verstehen würde, was Menschen so tun, könnte ich ja nichts mehr verändern. Ich müsste es so lassen wie es ist. Denn das Eine verursacht das Andere, das Nächste bedingt das Übernächste, wenn ich an einem Faden zu ziehen beginne, fällt doch das ganze Gebilde zusammen. Und da dieses Gebilde sich selbst erhalten will, kann ich ziehen wo ich möchte, es wird immer einen Ausgleich suchen. Ist das nicht etwas müßig?“ Ich betrachte meine Schuhe. Sie sind staubig.
Der Hund kommt soeben aus dem Wasser und geht langsam auf mich zu. Sein Bart tropft, er hat getrunken. Das Wasser fällt auf die staubigen Schuhe und hinterlässt drei dunkle Flecken.

„Willst du die Welt verändern?“ Josefs Frage klingt ein wenig provokant.
„Ich hatte es vor, ja.“ Mein Trotz ließ sich leider nicht verbergen. Josef lachte laut. Das war mir klar. Weshalb sollte ausgerechnet ich die Welt verändern können. Ein Sandkorn in der Wüste.
„Ich bewundere deine Kampfeslust, aber vergiss nicht, du kämpfst gegen Windmühlen.“ Er hörte nicht auf zu lachen und allmählich wurde ich böse. Ich mag es nicht, wenn man sich über mich lustig macht.
„Soll ich tatenlos zusehen, was auf dieser Welt geschieht? Genau das ist ja das Problem, zu viele tun das. Diejenigen, die aufstehen und etwas verändern, das sind zu wenige. Was sollte ich deiner Ansicht nach tun?“
„Wenn ich sage, du kämpfst gegen Windmühlen, so meine ich das durchaus ernst. Warum richtet ein Mensch sein Schwert gegen eine harmlose Windmühle? Weil er sie für einen gefährlichen Gegner hält. Wenn du die Welt verändern willst, wirst du automatisch gegen ihren natürlichen Lauf ankämpfen. Und, ich kann es dir heute schon sagen, du wirst diesen Kampf verlieren. Die Welt ändert sich von selbst, durch das Zutun jedes Einzelnen. Stelle dir noch einmal die Spinne mit den Milliarden Beinen vor. Angenommen, ein einziges Bein würde nun den Lauf der Spinne bestimmen wollen, es müsste Milliarden andere beeinflussen oder gar lenken müssen, was noch lange nicht bedeuten würde, dass die Spinne dem Wunsch ihrer Beine folgen würde.


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Welch eine Macht müsste dieses eine Bein auf das gesamte Spinnentier ausüben müssen? Erachtest du das als erstrebenswert?“
Er hat mich wieder überlistet.

Meine Füße sind heiß geworden, ich ziehe meine Schuhe aus, lege meine Socken darüber und vergrabe die Zehen im Sand. Einmal tief durchatmen, dann stehe ich auf, kremple meine Hosenbeine hoch und gehe durch den Sand zum Ufer. Das Wasser ist flach und der Boden weich. Bis zu den Knien steige ich in das kühle Nass und mit den hohlen Händen nehme ich das Wasser auf und schütte es mir ins Gesicht. Ich brauche das jetzt, die Windmühle hat mir den Rest gegeben. Mir ist, als ziehe mir der Alte den Boden unter den Füßen weg. Wofür habe ich denn die ganze Zeit gelebt, gedacht, geglaubt, gearbeitet und so vieles mehr? Wo bleibt meine ganze Hoffnung? Ich fühle mich wie ein Kind, das sein Spielzeug nicht bekommt,  das macht mich wütend und ich fühle einen Kloß im Hals. Ich streiche mir die nassen Hände durch das Haar, halte meinen Kopf und sehe über den Fluss. Das Wasser fließt zügig von mir fort und ich sehe durch die Fließbewegung hindurch in die Tiefen. So vieles scheint von mir wegzuströmen und dennoch bleibt der Fluss was er ist, trotz seiner permanenten Veränderung. Bin ich nicht das Gleiche, ein sich ständig bewegender Strom und dennoch immer dieselbe Person? Die Welt mit allen ihren Geschöpfen ist doch nichts anderes, warum will ich so vehement in dieses Geschehen eingreifen. Es ist als würde ich gewaltsam einen Fluss in eine andere Richtung lenken wollen. Solches hat sich noch nie wirklich als gut erwiesen. Ich richte meinen Blick in die Ferne und frage mich, was ich stattdessen tun kann. So gerne möchte ich das Leid aufhalten. Ich kann es einfach nicht und mich lässt das Gefühl nicht los, zu versagen. Ja, ein wenig Verzweiflung ist schon dabei.

Die Welt zu verändern hatte ich zu meiner Bestimmung gemacht.
Ich steige wieder aus dem Wasser, der Sand kriecht mir zwischen die Zehen und ich empfinde es als angenehm. Josef sitzt vor mir, beide Hände auf seinen Wanderstab gestützt, die Beine gerade ausgestreckt. Er hatte aus meinem Rucksack die Wasserflasche gezogen und reicht sie mir nun rüber. Es ist wahr, ich habe Durst.
Nachdem ich die Flasche zurückstellte, setze ich mich wieder neben ihn.

 „Ich denke ich habe verstanden, was du meinst. Aber bitte, sag mir was ich jetzt tun soll. Ich habe mein Leben für diese Idee gelebt. Es entzieht mir die Grundlage, wenn ich jetzt alles verwerfe. Soll ich in den Tag hinein leben, ohne Sinn und Ziel? Wenn ich nur für mich allein existiere, um mich und mein Ego zufrieden zu stellen, das wäre mir zu wenig. Mein Leben hätte einfach keinen Sinn mehr. Ich muss irgendetwas tun, was dieser Welt zu Nutze ist.“ Ich kämpfe mit den Tränen. Wann habe ich das letzte Mal geweint. Es ist lange her, doch hier geht es um viel. Es geht um meine Identität, und ich muss zugeben, deren Bedeutung habe ich unterschätzt.
Josefs Stimme holt mich aus meinem Anflug von Verzweiflung.
„Was ist mit deinem Wort?“
Ich sehe ihn an, und muss aussehen wie ein lebendes Fragezeichen.  Ja, was ist mit meinem Wort? Jetzt weis ich es weniger als je zuvor.
„Lass uns ein Stück weitergehen, ich muss mich unbedingt bewegen.“ Josef scheint mich zu verstehen, er steht auf und geht mit mir zum Weg zurück. Sein Hund folgt uns, und diesmal geht er eng neben mir.

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Das Haus

Josef und ich gehen schweigend nebeneinander her. Meine Gedanken kreisen immer wieder um die Letzten Sätze unseres Gespräches. Soll es tatsächlich so sein, dass ich nichts auf dieser Welt ausrichten kann, nichts wirklich verändern? Sind wir dazu verdammt, alles so hinzunehmen, wie es ist und im Grunde bleibt uns nichts anderes, als darauf zu warten, dass die Natur der Dinge für Ausgleich sorgt? Es ist, als würde ich mir einen Film ansehen, und könnte an den entscheidenden Stellen nicht eingreifen. Der große, graue Hund rückt mir noch ein Stück näher, er dreht den Kopf kurz in meine Richtung, als wolle er sich vergewissern, dass  alles in Ordnung ist. Ein eigenartiges Tier. Ich bin ihm völlig unbekannt, und dennoch steigt er in mein Leben ein, als gehöre ich zu ihm. Er steigt ein…., und so, wie er sich in mein Leben begibt, von einer Minute auf die Andere Bedeutung für mich erlangt, damit meine Gedankengänge beeinflusst, und mich auf kaum merkliche Weise damit verändert, auf eben diese Art könnte ich doch in das Leben vieler Anderer einsteigen, mit meinen Gedanken und Ideen. Ich muss niemanden zur Veränderung zwingen, doch ich kann eine Möglichkeit anbieten,  Hilfe zu leisten, bei einer inneren Neuorientierung. Vielleicht einfach nur ein Stück mitgehen, damit der Andere sich nicht mehr einsam fühlt. Der Hund sieht mich noch einmal an, trabt los und geht wieder seinen eigenen Interessen nach. Hm, er war einfach nur einen Augenblick neben mir, und das allein hat mein Gedankenbild verändert. Wie sagte Josef vorhin? Die Welt verändert sich von Selbst, und jeder Einzelne trägt seinen Teil dazu bei. Jetzt wird mir erst bewusst, wie viel Josef die letzten zwei Stunden in meinem Leben verändert hat und ich brauchte erst den Hund um es überhaupt zu bemerken. Ich lächle vor mich hin und schüttle den Kopf, soviel Blindheit hätte ich mir gar nicht zugetraut.  
„Schön!“ Ruft Josef begeistert aus und legt einen Schritt zu. Ich bleibe stehen, will etwas sagen, doch wie gebannt sehe ich, wie vor uns ein Gebäude auftaucht, das mir völlig unbekannt ist. Es gleicht einer alten Villa, und ist umwuchert von Sträuchern und kleineren Bäumen.
„Wo kommt dieses Gebäude her? Das ist mir noch nie aufgefallen. Wie oft bin ich hier vorbeigekommen, ich kenne jeden Winkel, aber dieses alte Haus habe ich nie gesehen.“ Unter meiner Schädeldecke flirrt es, fühlt sich an wie ein Rechner, der im Walde steht. Vor dem Haus liegen einige umgestürzte Bäume, der letzte große Sturm hat vieles mitgenommen.
„Wäre es möglich, dass die Bäume das Haus verdeckt hatten und es jetzt, durch den Sturm erst sichtbar geworden ist?“ Ich gehe einfach davon aus, dass Josef die Antwort weis.
„Ja, das wäre möglich.“ Ist dann alles, was er mir dazu sagen kann. Was hab ich erwartet?
Dieses Haus hat keine Zufahrt. Es liegt mitten im Wald, muss jedoch zu seinen Glanzzeiten ein wunderschönes Bauwerk gewesen sein. Wir nähern uns langsam. Der Hund geht vor, steigt die ersten drei Stufen zur Haustüre hinauf. Schwanz wedelnd steht er davor als erwarte er, dass ihm jemand öffnet. Die Türe ist umgeben von einem reich verzierten Rahmen aus schwerem Eichenholz. Selbst die hohen Fenster sind mit solch aufwendiger Schönheit gestaltet, dass man glaubt, ein Künstler hätte sich Jahre damit beschäftigt. Die gelbliche Fassade verliert an allen Ecken ihre Farbe, der Putz fällt ab und gibt den Blick auf  rote Ziegel frei. Links und Rechts des Treppenaufganges ranken noch alte Rosensträucher an den Wänden empor, sie tragen kleine rosafarbene Blüten, die einen betörenden Duft entfalten. Es gibt nur noch wenige Rosensorten, mit solch intensivem Duft. Wer sie wohl gepflanzt haben mag? Jetzt erst entdecke ich, dass der Zugangsweg zu diesem Haus aus dem Wald kommt. Ein schmaler Pfad schlängelt sich zwischen den Bäumen hindurch und führt bis vor die Haustüre.
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Die Bewohner dieses Hauses haben wohl nie ein Auto besessen. Der Hund beginnt unruhig zu werden.
„Komm, lass uns gehen, am Ende ist das Haus bewohnt und wir stören nur.“ Flüstere ich Josef zu, doch dieser lacht nur und sagt: „Nein, hier stören wir niemanden.“ Zu meiner Überraschung zieht Josef einen Schlüssel aus seiner Hosentasche und geht zur Tür. Natürlich, der Hund wusste es. Ich kann es nicht glauben. Josef schlisst die Türe mit dem schweren Schlüssel auf. Es ist ein uraltes Schloss, ich kenne solche Eisenbeschläge aus meiner Kinderzeit. Die dicke Holztüre knarrt und ich höre den Widerhall im Eingangsbereich des Hauses.
Der Hund läuft vor und verschwindet zielstrebig in einem der angrenzenden Räume. Josef bittet mich höflich einzutreten. Hinter mir fällt die schwere Türe ins Schloss.
„Hier wohnst du also.“ Staunend stehe ich mitten im großen Flur, drehe mich nach allen Seiten und kann nicht glauben, dass ein solch wunderschönes Haus in diesem Wald steht, an dem ich seit Jahren vorbeigewandert bin.
An der linken Seite des Flures hängt ein altes, verziertes Wasserbecken an der Wand. Darüber ragt der schön geschwungene Hahn und sein tropfendes Geräusch klingt durch den Raum. Die Holztruhe daneben dient als Abstellplatz für zwei Zinkeimer und einen Handfeger. Dahinter öffnet Josef eine große Türe. Auf dem elfenbeinfarbenen Holz ist ein Kleiderhaken angebracht und daran hängt eine durchlöcherte Strickjacke. Hinter der Türe liegt die Küche. Der gesamte Boden des Hauses scheint aus breiten, gewachsten Holzplanken zu bestehen. Dadurch wirkt er etwas uneben aber warm und einladend. In der Küche steht ein Holzofen mit einem schräg liegenden Ofenrohr darüber.

Über dem Ofenrohr hängen Socken und Geschirrtücher auf einer Leine zum trocknen. In der dicken, weis getünchten Wand sind mehrere Vertiefungen, wie kleine Erker, in denen Krüge, Töpfe und Pfannen aufbewahrt sind. Ein Tisch steht vor dem Fenster und zwei Bänke auf jeder Seite. Von hier aus hat man einen wunderbaren Blick in den Wald. Neben dem Tisch steht ein Sofa. Josef legt seinen Rucksack darauf und ich stelle meinen daneben.
„Möchtest du einen Kaffee?“ fragt mich Josef einladend, während er Holz im Ofen nachlegt. Er hat keinen Strom im Haus. Die Ofenplatte wird schnell heiß und Josef stellt den Emailtopf mit Wasser darauf.
„Gern.“ Ich setze mich auf die Bank am Tisch und sehe dem alten Mann zu, wie er den Filter bedächtig auf der Kanne platziert. „Lebst du allein hier?“ frage ich, um die Stille etwas zu überbrücken.
„Wie du ja weist habe ich meinen grauen Freund bei mir, ansonsten ist hier niemand mehr. Ich sagte bereits, ich werde nicht lange hier sein.“ Josef lächelt zu mir rüber, und widmet sich dem kochenden Wasser. Er stellt zwei Tassen auf den Tisch. In einer Schüssel mit kaltem Wasser steht eine Milchflasche. Auf der Wasseroberfläche schwimmt, wie ein kleines Schiffchen, eine Plastikdose, dicht verpackt darin die Butter. Ein seltenes Kühlsystem.
Als Josef und ich uns am Tisch gegenüber sitzen sieht er mich lange eindringlich an. Dann nimmt er einen Schluck aus seiner Tasse, stellt sie langsam wieder ab und fragt: „zu welcher Erkenntnis bist du nun gekommen?“ Er weis es doch, weshalb fragt er noch? Vielleicht will er, dass ich rede.
„Ich denke, ich kann auf dieser Welt nur etwas verändern, wenn ich mich selbst bewege. Da ich das jedoch zeit meines Lebens tue, gehe ich davon aus, dass ich auf dieser Erde schon einiges in Gang gebracht habe.“ Josefs Gesicht zeigt Zufriedenheit. „Sicher“, fahre ich nach einem Schluck Kaffee fort, „es ist nicht das, was ich mir erträumt hatte. Ich dachte schon an weiter reichende Veränderungen, “ nun kann ich mir ein Lachen nicht verkneifen, „weist du, ich möchte am liebsten etwas in die Welt hinaus rufen, und mit einem Schlag wird alles gut.“

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„Ja, was ist gut? Wenn du genau wüsstest, was gut für die Menschheit ist, dann wärst du so eine Art Gott. Traust du dich an eine solche Aufgabe heran?“ Josef lächelt und zwinkert mir mit einem Auge zu. Er hat es mir schonend beigebracht, er hätte es auch anders formulieren können. Dankbar schau ich zu ihm rüber.  
Er atmet einmal tief ein und wieder aus, stellt seine Tasse ab und sieht in den Wald hinaus. Die Nachmittagssonne taucht die Stämme der Bäume in goldenes Licht.
Josef wendet seinen Blick wieder zu mir, „Stell es dir einfach so vor; auf dieser Welt wird ein riesengroßes Spiel gespielt und das Spielfeld gleicht einem Kindergarten. Das soll keinesfalls abwertend sein, im Gegenteil, die Menschen sind nun mal nicht vollkommen, sie sind längst nicht das, was sie als erwachsen bezeichnen. In diesem Kindergarten gehen Kinder aus und ein, sie kommen und sie gehen wieder. Sie spielen miteinander, ebenso, wie sie auch miteinander streiten. Es gibt Kinder, die quälen andere oder töten sie sogar. Es bilden sich Interessengemeinschaften aller Art. Die Einen werden kreativ und suchen nach Lebensfördernden Lösungen und die Anderen stiften Kriege an. Im Grunde kann jeder tun was er will, er muss nur bereit sein, die Folgen in Kauf zu nehmen. Natürlich taucht die Frage auf, wer betreut diese Rabauken?“ Josef scheint die Welt nicht ganz ernst zu nehmen. „Meinst du Gott? Warum greift er dann nicht ein?“ frage ich irritiert.
„Es ist nicht seine Aufgabe, in alles, was die Menschen tun einzugreifen. Er mischt sich nicht ungefragt ein. Wenn du darüber nachdenkst, was Gott eigentlich sein könnte, wirst du selbst darauf kommen. Gott stellt uns Energie zur Verfügung, was wir damit tun, bleibt uns überlassen. Sieh, wie die Natur funktioniert, und glaub mir, das tat sie schon bevor der Mensch existierte, aus ihr kannst du vieles ablesen. Alles Lebendige trachtet danach am Leben zu bleiben und zu wachsen. Um nichts anderes geht es. Gott wird sich schon was dabei gedacht haben, als er das Leben hat werden lassen.“ Josef schmunzelt wieder, und ich weis nie genau, was er ernst meint und was nicht.
„So, und wenn dem so ist, frage ich mich, weshalb er das Leben nicht schützt.“ Mir wird das Ganze unverständlich.
„Was hätte das Leben und das Lernen der Menschen für einen Sinn, wenn da ein anderer wäre, der ihre Entscheidungen fällt. Er würde ihnen jegliche Erfahrung nehmen.“ Josef beugt sich über den Tisch und zieht die Augenbrauen hoch. Er wartet auf meine Reaktion.
„Muss denn ein unschuldiges Kind die Erfahrung machen, wie es ist, unter den Augen der Eltern zu verhungern?“ Meine Faust fällt auf die Tischplatte. So laut war es gar nicht gewollt. Josef lacht.
„Kannst du es denn beurteilen?“ Er provoziert mich und ich fühle Wut in mir aufkeimen.
„Es liegt doch auf der Hand, dass es ungerecht ist, einen Unschuldigen, Wehrlosen leiden zu lassen. Oder nicht?“
Der Alte lehnt sich zurück und verschränkt die Arme vor der Brust, „Woran machst du es fest, dass etwas ungerecht ist?“
„Das weis man doch, ich meine, wir sind doch alle erzogen worden und haben gelernt was Recht und Unrecht ist!“ Wie kann man das in Frage stellen, ich sehe doch, wenn jemand leidet, wie kann er mir diese Urteilsfähigkeit absprechen. Mein Herz schlägt heftig hinter den Rippen.

Der Hund kommt durch die Türe, steht da und sieht mich fragend an. Unsere Blicke ruhen lange aufeinander, er sieht besorgt aus. Ich strecke meine Hand nach ihm aus und er kommt zu mir, senkt den Kopf und legt die Ohren zurück. Als ich ihm mit dem Finger sanft über die Nase streiche, beginnt er leicht mit dem Schwanz zu wedeln. „Keine Sorge, es ist alles gut.“ Es schmerzt mich ein wenig, dass ich dieses besondere Tier beunruhigt habe.

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Seine Anwesenheit glättet meine Wogen wieder. Jetzt erst merke ich, wie eingehend Josef das Spiel zwischen dem Hund und mir beobachtet hat.
„Glaubst du wirklich, dass Erziehung der unumstößliche Maßstab von Recht und Unrecht ist?“ Will er mir all meine Glaubensvorstellungen zunichte machen? Ich stütze meine Stirn in beide Handflächen und sehe seitlich zum Fenster hinaus. Auf der Wiese sitzt eine Amsel und versucht einen Regenwurm aus dem Boden zu ziehen, ein skurriler Anblick. „Wonach soll ich mich denn sonst richten, eine ganze Gesellschaft richtet sich danach, was sie anerzogen und gelehrt bekommen hat.“ Allmählich muss ich mich zusammennehmen, Josef kann nichts dafür, dass ich mich plötzlich so miserabel fühle.
„Aha! Da haben wir es ja, und genau diese Gesellschaft willst du verändern, weil sie dir gar nicht gefällt, stimmt das?“ Der Alte wirkt fast schon schadenfroh. Mein Kaffee ist kalt und ich schlürfe den letzten Schluck aus der Tasse. Josef steht auf und holt die Kanne vom Ofen und gießt mir einen frischen, heißen Kaffee nach.
„Danke.“ Ich fühle mich erschöpft. Der Hund sitzt neben mir, nun legt er seinen Kopf auf mein Bein und schaut vor sich hin als würde er etwas damit bezwecken.
„Ja, du hast Recht, die Erziehung allein kann es auch nicht sein. Es gibt Länder, da werden Kinder zu Kriegsmaschinen erzogen. Wir lassen uns von den Medien erziehen, und trotz aller Erziehung haben wir immer noch keine brauchbaren Werte. Aber wenn man in dieses ganze Geschehen nicht eingreifen darf nur um den Beteiligten die Erfahrung nicht zu nehmen, wo soll das denn hinführen?“
„Moment, nur weil Gott sich nicht einmischt, zumindest nicht merklich, heißt das noch lange nicht, dass du es nicht darfst. Du bist doch ein Spieler, ein Kind in diesem Kindergarten, spiele was du spielen kannst. Bei jedem Spiel, das du beginnst werden sich neue Dimensionen für dich eröffnen. Du darfst ruhig mit etwas mehr Vertrauen an die Dinge herangehen.“
„Ach Josef, ich tue mich etwas schwer mit deinem Lebensspiel. Was ist mit den Kindern, die permanent geschlagen und getreten werden?“
„Versuche, etwas weiter über die Kindergartenmauern hinauszusehen. Da draußen hört die Welt nicht auf und auch das Leben nicht. Ich weis, du zweifelst, aber in dieser Hinsicht bliebt dir wirklich nur das Vertrauen auf Gott. Jeder Kindergarten hat ein Tor, durch das die Einen herein kommen, und eines, durch das die Anderen wieder hinausgehen. Wenn eines der Geschöpfe die Lasten nicht mehr tragen kann, darf es getrost durch dieses Tor nach draußen und wieder nach Hause gehen. Gehe davon aus, dass da draußen nicht das Ende ist. Wäre dem so, hätte dieser ganze Kindergarten mit all den Lehren und Erfahrungen keinen Sinn.“ Josef sprach ernst und ruhig. Seine Stimme klang als gäbe es nichts mehr anzuzweifeln. Nun gut, ich beschließe, mich darauf einzulassen.
„Also, gehen wir davon aus, dass der Tod nicht das größte Übel ist. Die Qual jedoch, gleich welcher Art, die sich zwischen Geburt und Tod  ereignen kann, will ich nicht akzeptieren. Wie kann ich sie verhindern?“
Josef zeigt sichtlich viel Geduld mit mir. „Du kannst nicht das Leid aller lebenden Geschöpfe verhindern. Auch Jesus hat es gewollt und mit all seinen Mitteln versucht. Das Leid der Welt ging weiter wie zu allen Zeiten davor.“
„Was hatte dann das Leben von Jesus für einen Sinn?“ Dieses Beispiel beunruhigt mich etwas, hat es mich doch in den Grundfesten meiner religiösen Erziehung erschüttert, dabei wird mir jetzt erst klar, dass etwas Derartiges in mir existiert.
„Jesus hat Werte auf diese Welt gebracht, und es gab Menschen für die stellten diese Werte Möglichkeiten dar, ihr Leben sinnvoll zu gestalten und diese Menschen hatten etwas, was sie im Herzen verband.
19
Versteh mich bitte richtig, ich spreche nicht von den Kirchenleuten, die Christus Botschaft missbrauchten, um andere damit zu unterdrücken, sondern ganz ehrliche Zeitgenossen, die sich aus freien Stücken seiner Botschaft angenommen hatten, sofern sie noch brauchbar überliefert wurde. Weist du, wie vielen er damit geholfen hat, sich in diesem turbulenten Kindergarten  zurechtzufinden, oder gar über schweres Leid hinwegzukommen? Es war nicht umsonst was Jesus tat. Und außer ihm gab es noch einige andere, die großartige Werte und Hilfen vermittelten, jeder angemessen an seine Zeit. Bedenke, all das Wissen, das die Menschheit heute ihr Eigen nennen darf, wurde über viele Jahrtausende schwer erarbeitet und weitergegeben. Und zwar von jedem Einzelnen, der daran beteiligt war. Neue Anforderungen jedoch fordern immer neue Möglichkeiten des Reagierens. Alle Lebewesen auf dieser Welt sind kreativ, selbst eine Pflanze muss nach Lösungen suchen, um ans Licht zu kommen oder um ihre Samen auf der Erde zu verteilen. Wie viel mehr Möglichkeiten hat erst der Mensch mit seinem Verstand? Er ist in der Lage, seine Intuition als solche zu erkennen, und bewusst zu nutzen. Seine Fähigkeiten kann er durchaus gezielt zu Höchstleistungen bringen und all das aus freien Stücken. Merkst du langsam, worauf ich hinaus will?“
„Sprichst du von mir?“ ich fühle mich etwas unsicher.
„Bist du kein Mensch?“ Josef fordert alles von mir. Ich werde das Gefühl nicht los, in eine ganz bestimmte Richtung gelenkt zu werden, wie ein Schaf, das man in einen Pferch treibt. Im Pferch liegt das Heu und das Schaf ist hungrig.
Der alte Mann steht auf, und bittet mich mit ihm zu kommen. Ich folge ihm durch die Küchentüre hinaus auf den Flur. Die Türe gegenüber steht angelehnt, der Hund stößt sie mit der rechten Pfote auf, geht hindurch und legt sich auf einen großen Teppich in mitten des Raumes. Dieser ist mindestens fünfzig Quadratmeter groß, an den Wänden stehen Bücherregale und es scheint, als wären die Bücher seit hunderten von Jahren nicht mehr angerührt worden. Große Bilder zeigen geheimnisvolle Landschaften, aufwendig in Öl gemalt. Auf diesem Gebiet bin ich durchaus bewandert, und weis diese hochwertigen Werke zu schätzen. Drei hohe Sprossenfenster geben den Blick in die Flussebene frei. Die Sonne steht tief und die Bäume die von hier zu sehen sind werfen lange Schatten. Ich habe die Zeit vergessen. Vor den Fenstern steht ein runder Tisch. Unter der schweren, dunklen Tischdecke kann ich ein massives, gedrechseltes Bein erkennen, das sich über dem Boden in drei stabile und schön geschwungene Füße teilt. Auf einer großen Kommode mit vier Schubladen steht ist ein Standspiegel platziert, ein in Holz geschnitztes Antiquariat. Der Spiegel ist  durch die seitlichen Halterungen schwenkbar. An den Türen der Schränke sehe ich überall goldfarbene, seidige Quasten an den Schlüsseln hängen, dahinter die aufwendig gearbeiteten Eisenbeschläge der Schlösser. Ein großer, schwerer Vorhang trennt einen Teil des Raumes ab, was sich wohl dahinter verbirgt? Josef lebt in einer Welt, die man heute so kaum mehr findet. Ich fühle mich um hundert Jahre zurückversetzt. Der alte Mann greift nach dem eisernen Schürhaken an der Wand und geht zu einem Ofen, der sich in einer Zimmerecke befindet, ein hohes, elfenbeinfarbenes Kunstwerk, mit Keramik gekachelt, und Ornamenten verziert. Josef öffnet die kleine Eisentüre und sortiert die noch glühenden Holzscheite, Funken sprühen und er legt noch einen Scheit nach. Es ist kühl im Raum denn die Abende sind noch längst nicht sommerlich. Neben dem Ofen steht ein gewichtiges Kanapee und ein samtiger, dunkelroter Sessel. Auf dem kleinen Tischchen, welches etwas schräg zwischen den beiden Sitzgelegenheiten platziert wurde stehen zwei Gläser, und eine Flasche Rotwein.
„Es sieht ganz so aus, als hättest du mich erwartet.“ Josef lacht und erwidert mit fröhlicher Stimme, „Ich bekomme selten Besuch, aber wenn, ahne ich das im Voraus.“ An seiner Gestik kann ich deutlich ablesen, dass Josef zu scherzen versteht, was sich jedoch eher auf den seltenen Besuch bezieht. Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich der Erste und Einzige bin, der jemals hier war.


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Der alte Mann setzt sich auf den roten Sessel und bittet mich ebenfalls Platz zu nehmen. Er zündet eine Kerze an und stellt sie zwischen uns auf den Tisch. Genüsslich öffnet er die Flasche und schenkt jedem von uns ein Gläschen ein. Ein außergewöhnlicher Wein. Das Feuer im Ofen beginnt zu knistern, der Hund schläft seelenruhig auf dem Teppich und draußen schwinden die letzten Sonnenstrahlen hinter den Baumkronen. Unwillkürlich denke ich an das Schauspiel, welches mir das Sonnenlicht heute Morgen noch geboten hatte. Die Zeit ging dahin wie im Fluge. Ich hatte kaum etwas gegessen und entschließe mich nun doch, den restlichen Proviant aus meinem Rucksack zu holen. Josef tischt noch etwas frisches Brot und Butter auf. Die Butter aus dem Plastikschiffchen. Nach dem wir uns gestärkt hatten, griff Josef wieder unser Thema auf, bei dem wir vor einer Stunde aufgehört hatten.
„Nun, wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, die Fähigkeiten, soweit ich weis, bist du ein äußerst kreativer Mensch, trägst künstlerische Veranlagungen in dir und bist durchaus aufgeschlossen für Neues. Sind das nicht hervorragende Vorraussetzungen, um etwas Großartiges zu leisten?“ Josef spricht diese Worte aus, als wären es kleine Funken die jetzt leuchtend zwischen uns stehen. Ich greife sie auf, bevor sie erlöschen.
„Glaubst du sie würden reichen, um auf dieser Welt etwas Positives zu bewirken?“ Ich sehe etwas Hoffnung am Horizont erscheinen.
„Das kommt ganz darauf an, welchem Anspruch du gerecht werden willst. Solange du von dir nichts Unmögliches erwartest, könntest du Erfolg haben.“ Josefs Lächeln zeigt mir deutlich, worauf er hinaus will. Gut, etwas mehr Bescheidenheit könnte ganz sinnvoll sein. Große Ziele zu stecken hatte für mich etwas mit Absicherung zu tun. Ich ging davon aus, wenn ich die Hälfte meines geforderten Pensums erreichen könnte, wäre es doch sinnvoll, das Pensum von vorn herein möglichst groß zu wählen, damit die erreichte Hälfte möglichst nicht zu gering ausfällt. Eine seltsame Art von Logik, das sehe ich jetzt auch ein.
„Also gut, du meinst, ich solle meine Ziele kleiner wählen, dann hätte ich eventuell die Chance, sie zu erreichen?“ Gespannt warte ich auf Josefs Antwort und das Warten lohnt sich.
„Was ist, wenn du auf jegliches Ziel verzichtest?“ Ich bin sprachlos.
„Das kann ich nicht, ich muss doch wissen, wo ich hin will, was ich erreichen möchte!“
„Was wäre denn dann dein Ziel?“ Josef wird langsam therapeutisch, ich mag das nicht.
„Wenn ich schon die Welt nicht retten kann, möchte ich wenigstens in irgendeiner Form verändernd auf sie einwirken.“ So, nun soll er sehen, was er damit anstellt.
„Kein Problem, wirf eine Atombombe, und du hast dein Ziel erreicht.“ Das darf nicht wahr sein, „ich will doch die Welt nicht zerstören!“
„Dann definiere dein Ziel etwas genauer.“ Josef grinst mit sichtlichem Genuss und nimmt einen Schluck aus dem edlen Glas.
Ich lehne mich zurück und nehme meine Füße mit auf die Sitzfläche. Josef hatte mir warme Socken gebracht.
Nun gut, ich gebe mich geschlagen. „Ich möchte auf alle Fälle positives bewirken, etwas Neues schaffen, das für andere hilfreich sein kann.“ Zumindest habe ich jetzt mein Ziel ins Positive gerückt.
„Das ist ja schon mal ein Anfang, allerdings ist der Kreis, in dem du agieren könntest noch recht weitreichend. Du könntest ein Energiesparhaus entwickeln, ein Buch über neue Kochrezepte schreiben, oder eine Hundeschule mit neuen Ideologien gründen.“ Josef lacht und sieht zu dem schlafenden Hund auf dem Boden. Resigniert lehne ich mich zurück. Bin ich wirklich nicht fähig, genau zu schildern, was ich auf dieser Erde will? Nach all den Einschränkungen die mir in den letzten Stunden bewusst geworden sind, sehe ich kaum noch Chancen. Solange man sein Ziel möglichst ungenau formuliert, kann man es getrost vor sich herschieben. Doch jetzt will ich konkret werden, und sehe, wie schwer mir das fällt. Das Schaf ist scheinbar immer noch nicht da, wo es hin soll.
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Allmählich taucht ein Bild vor meinem inneren Auge auf. Ich sehe Menschen sich miteinander verbinden, durch den Gedanken an etwas Gutes, Hilfreiches. Da zeigen sich  Worte wie Liebe, Freiheit und Licht. War es nicht das, was mich letzte Nacht immer wieder aus dem Schlaf geholt hat? Die drei Grundpfeiler einer Welt, die wir uns selbst erschaffen könnten? Jetzt erst bemerke ich, wie Josef mich gespannt beobachtet, selbst der Hund hebt seinen Kopf und sieht nach mir. Meine Ziele waren bis her so unkonkret, dass ich mich jetzt, vor den ersten erkennbaren Anzeichen eines Weges erschrecke. Wie soll es erst werden, wenn mir klar vor Augen steht, was mein Inneres, oder wer auch immer das sein mag, von mir erwartet. Ich sehe Josef lange an. Seine Augen ruhen auf meinen, so unerschütterlich, so tief und wissend, dass alles, was ich um ihn sehen konnte, für einen Augenblick verschwindet. Ich sehe nur diese Augen, die aus dem tiefsten Grund des Meeres aufzutauchen scheinen.
Es ist, als müsste ich den Blick senken, mir war, als hätte ich IHN erkannt, für Sekunden nur, mich beunruhigt dieses Gefühl von Unendlichkeit, dieses Absinken in etwas Urvertrautes, was jedoch mit dem mir bekannten Mensch sein nichts mehr zu tun hat. Mit dem Verstand ist dieses Empfinden kaum fassbar, so flüchte ich mich wieder in unser Gespräch.
„Josef, ich kann diese Grenze des Fassbaren nicht überschreiten, möchte jedoch so gerne herausfinden, was da seit so langer Zeit nach mir ruft. Es ist ja nicht nur dieses Wort, so viel mehr scheint auf mich zu warten. Seit meiner Kindheit begleitet mich etwas, so als würde jemand neben mir gehen. Es hat mich beschützt in Notzeiten, gefordert, wenn ich träge wurde, gewarnt, wenn ich in gefährliche Regionen vorgedrungen war und es hat nach mir gerufen, mich gelenkt, auf Dinge hingewiesen, welche durch diesen Hinweis erst Bedeutung erlangten.“ Ich richte mich auf und sehe ernst zu dem alten Mann, der mich so liebevoll mustert, dass mir das Herz weich wird, mir ist, als würde ich mich auflösen.
„Dieses Etwas wartet darauf, dass ich das tue, von dem ich nicht genau weis was es ist, deshalb kann ich mein Ziel nicht wirklich definieren.“
Josef lehnt sich nach vorn und stützt beide Arme auf die Knie. „Weist du jetzt, weshalb ich dir vorschlug, auf jegliches Ziel zu verzichten?“
„Woher weis ich denn dann, was ich tun soll, wenn ich kein Ziel habe?“ Die Verzweiflung ist der Hoffnung gewichen. Ich habe das starke Gefühl in mir, Josef kann mir helfen.
„Würdest du ein Unternehmen gründen wollen, würde ich dir dringend raten, klare Ziele zu setzen. Doch du gehst einen anderen Weg. Du willst etwas in die Welt bringen, von dem du selbst noch nicht weist, was es ist. Das bedeutet, du brauchst diesen Begleiter, der dir den Weg weist, er ist deine Stimme, die dir flüstert, welche Richtung es einzuschlagen gilt. Du wirkst schaffend, und das gelingt dir nur dann, wenn du dieser inneren, kreativen Stimme folgst. Das Universum mit all seinen Erscheinungsformen ist für den menschlichen Verstand nicht zu begreifen, Raum und Zeit sind menschliche Erlebnisformen, die nicht wirklich zu erklären sind. Sie deuten die Grenzen eurer Welt an, die ihr, solange ihr Mensch seid mit dem Verstand nicht durchbrechen könnt. Allerdings gibt es Verbindungen nach draußen, ihr seid dadurch erreichbar, und könnt Signale nach draußen senden. Ihr tut dies in Form des Betens, oder während einer Meditation, in Notzeiten, oder in der Stunde des Sterbens. Dieses Draußen ist nicht weit weg, es ist mitten unter euch und deshalb hast du oft das Gefühl, dass jemand neben dir geht.“ Wieder sieht mich Josef so viel sagend an.
„Nun, dann wundert es mich nicht, dass ich niemals Beweise fand für die Existenz dieser anderen Seite. Es ist ein inneres Erleben, das man mit Worten kaum schildern kann. Sollte ich jedoch deshalb daran zweifeln? Würde ich mich dann nicht selbst anzweifeln?“ Ich sehe hinaus in die Abenddämmerung. Die hohen Bäume sind nur noch als Silhouetten zu erkennen.

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Jahre habe ich mit  mir und meinem Empfinden dieser anderen Welt gehadert, doch je länger ich Josef zuhöre, oder mich in seiner Nähe befinde, desto mehr Vertrauen und Hoffnung keimt in mir auf. Sollte ich meine Aufgabe, zu der ich mich berufen fühle doch noch erfüllen können, vielleicht auf eine völlig andere Weise, wie ich es erwartet hatte? Dann soll es so sein. Ich greife nach einem der Brote und bestreiche es mit Butter, sie ist mit der Zeit weich geworden. Josef holt eine Flasche Wasser und zwei frische Gläser, setzt sich wieder in seinen tiefen Sessel, lehnt sich zurück und schlägt die Beine übereinander. Er mustert mich prüfend. „Es ist so weit,“ spricht er mit wissendem Klang in der Stimme, „du solltest reagieren, auf das, was dich ruft, wenn du es nicht tust, wird der Klang verhallen und eine Aussicht auf Veränderung zieht ungenutzt vorüber.“ Josef macht einen recht ernsten Eindruck auf mich, ich schlucke meinen letzten Bissen des Butterbrotes hinunter und trinke ein wenig Wasser nach. Der große, graue Hund steht auf, reckt sich  und geht zu seinem Herrn. Dieser legt seinen Arm um den Hals des Tieres, zwei wunderbare Freunde und eine seltene Harmonie. Dennoch, ich fühle eine sonderbare Spannung zwischen uns dreien, ja, ich muss den Hund mit einbeziehen, denn er scheint auf alles zu reagieren, was emotional mit einem von uns geschieht. Josef steht auf und sieht auf mich herunter. „Komm, ich möchte dir etwas zeigen.“ Ich erhebe mich von meinem gemütlichen Kanapee und folge ihm, der Hund bleibt dicht neben mir.

23


Die Holundernacht


 Der Alte Mann geht auf den Flur. Von der hellen mit Stuck verzierten Decke hängt, an einem langen Kabel, eine uralte Tellerlampe aus Porzellan. Es scheint doch noch Strom im Haus zu geben. Der zarte Rand des Schirmes ist mit filigranen Blumen verziert. Das gelbliche Licht taucht den Raum in eine urtümliche Atmosphäre. Am hinteren Ende des Flures befindet sich noch eine Türe, von der ich noch nicht weis, was sich dahinter verbirgt. Ihre dunkelbraune Farbe beginnt abzublättern und als Josef sie öffnet, knarrt sie laut. Ein mulmiges Gefühl macht sich in mir breit, denn ich kann nur Dunkelheit erkennen.
Erst als Josef den Lichtschalter umdreht erhellt sich der Raum leicht. Ich folge dem Hund und seinem Herrn, welcher vor uns eine Treppe hinab steigt. Die Holzstufen erinnern mich an die Wendeltreppe eines  Kirchturmes, nur, dass diese  hier nach unten führt. Die Wände links und rechts lassen den Bruchstein erkennen, aus dem das Fundament des Hauses errichtet wurde. Es riecht nach Holunder. Stufe für Stufe steigen wir hinab, und Josef scheint meine Unsicherheit zu spüren.
„Sei unbesorgt, es wird nichts geschehen, was du nicht zulassen wirst.“ Das beruhigt mich ein wenig, es genügt die Gewissheit, dass der, dem ich folge, von meiner Unsicherheit weis und keineswegs gewillt ist, mir zu schaden.
Am Ende der Treppe eröffnet sich ein kleiner Raum an dessen Ende eine schmale Tür geöffnet steht. In dem Zimmer was nun sichtbar wird brennen große, breite Kerzen. Ein bogenförmiges, tief in der Mauer liegendes Fenster steht leicht geöffnet und wie es scheint wird es sich so bald nicht schließen lassen. Durch das Fenster ragt ein von draußen herein
wachsender, knorriger Ast eines Holunderbaumes. Er verzweigt sich innerhalb des Raumes, ist bestückt mit grünen Blättern und prangt voller weiser Blütendolden. Der Raum ist geflutet mit diesem betörenden Duft.
Unter dem schweren Ast steht ein Tisch aus Stein. Auf ihm ruht schwer eine dunkle Marmorplatte und auf ihr liegen verstreut kleine, weise Blütensterne. Dazwischen stehen die brennenden Kerzen. Im Raum ist es trotz des offenen Fensters angenehm warm. Auf dem Holzboden liegt ein großer runder Teppich und in seiner Mitte stehen zwei kleine gepolsterte Hocker. Josef bittet mich Platz zu nehmen, er setzt sich mir gegenüber. Der Hund legt sich auf den Teppich ganz in unsere Nähe.
Als ich mich umsehe erkenne ich ein metallenes ANKH an der Wand hängen, dieses kreuzförmige Symbol, welches in meinem Leben schon so viel Bedeutung gewonnen hat. Es ist das ägyptische Zeichen für Leben und ich trage es seit Jahren bei mir. Hier finde ich es also wieder. Die Wände sind weiß getüncht und ein großer massiver Holzschrank steht zu meiner Linken. Sonst ist nichts zwischen diesen Mauern, in diesem Raum ist der Holunder das Zentrum.
Ich sehe Josef fragend an, er lies mir genügend Zeit, mich in der neuen Umgebung zurechtzufinden.
„Was geschieht nun?“ zaghaft stelle ich meine im Augenblick wichtigste Frage. Ich höre den tiefen Atem des alten Mannes mir gegenüber, er sitzt aufrecht, legt die Beine gekreuzt übereinander und zieht die Füße zum Schemel. Ich tue es ihm gleich und warte. Nun sieht er mich ernst an, neigt den Kopf etwas zur Seite, sein weises Haar schimmert wie die Blütendolden des Holunders. Sein Bart lässt ihn sanft erscheinen und allein seine Anwesenheit genügt, um das jetzt nötige Vertrauen in meinen Grundfesten zu verankern.
Seine Stimme weckt mich aus meinen Gedanken.
„Ich habe dein Rufen vernommen und ich habe dir geantwortet, du konntest es immer wieder erahnen. Eines Tages war es so weit, ich musste mich dir zu erkennen geben und so trafen wir uns in diesem Flusstal. Ich bin der, der stets neben dir ging.“

24

Josefs Augen strahlten ihre sanfte Art von Liebe in den Raum und trafen mich mit voller Wucht ins Herz. Derartiges hatte ich noch nie gefühlt, als hätte er mit einem Schlag alle Finsternis von mir genommen. Er hob langsam seine Hand und wieder malte er das Zeichen über meine Stirn. Ein kreuzförmiges Symbol mit einem Kreis über seiner Mitte. Mir ist, als hätte ich dieses Zeichen vor meinem inneren Auge leuchten sehen.
ANKH, das Leben selbst steht über mir. „Erkennst du mich nicht?“ Josef wiederholt seine Frage die er zu Anfang an mich gerichtet hatte, oben am Fluss. Seine Stimme klingt wie eine leichte Brandung, wirbelt Unruhe in mir auf, um sie im nächsten Augenblick wieder zu glätten. Seine Augen ruhen unausweichlich auf meinen, diesmal halte ich seinem Blick stand, lasse mich umspülen, mitreißen und wieder zur Ruhe bringen.

Ja, ich kenne ihn, Erinnerungen tauchen auf, Unbekanntes und doch Gelebtes, zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort. Josefs Gesicht verschwindet aus meinem Blickfeld und allmählich baut sich ein neues Bild vor mir auf. Fremde Geräusche durchfluten mein Gehör, von Stimmengewirr umringt erkenne ich Tische und Stühle, große Fensterscheiben durch die eine Straße zu sehen ist. Draußen liegt Schnee. Ich sitze allein am Tisch und warte auf bestelltes Essen. Am Nebentisch sitzt ein älterer Mann, aufrecht mit weisem Haar. Er lächelt mich an und ich bitte ihn um Feuer für meine Zigarette. Er gibt mir ein weises Feuerzeug. Als ich es ihm zurückgeben will, greift er nach meiner Hand, mustert ihre Innenfläche, und malt Zeichen über meine Stirn. Es wiederholt sich all das, was heute Morgen  am Fluss geschehen ist. Er legt ein schwarzes Feuerzeug auf den Tisch, die Spielkarte und den Block mit dem Satz den er darauf geschrieben hatte, folgte. Damals verriet mir der alte Mann, ein Mensch bestehe immer aus dreien. Verstanden hatte ich auch damals nichts
Doch heute steht die Erinnerung klar vor mir. Es war vor langer Zeit, ich war ein anderer Mensch, da begegnete mir Josef schon einmal, damals versprach er mir, wir würden uns wieder sehen, und dann würden wir zu dritt sein. Ich hatte ihn nicht erkannt, auch damals war ich auf der Suche und er bedeutete mir ebenfalls, dass ich es längst gefunden hätte, aber begreifen konnte ich die Worte des alten Mannes nicht. Im Gegenteil, damals machte mir Josef deutlich, dass er zu früh gekommen sei und er verschwand aus meinem Leben, so plötzlich, wie er gekommen war. Doch er lies mir den Block mit dem Satz den er mir geschrieben hatte zurück. Ich muss ihn lange aufbewahrt haben, denn meine Erinnerung an ihn ist tief in mir eingegraben. Jetzt weis ich, ich habe Jahrzehnte nach Josef gesucht, habe versucht zu verstehen, was er sagte und bin ohne eine Antwort von dieser Welt gegangen. Trauer, unendliche Trauer war  mir geblieben, dieses Gefühl begleitete mich über den Tod hinaus und folgte mir bis heute. Ich hatte nie verstanden, woher dieses tiefe Empfinden kam, dieses Suchen und Sehnen nach etwas mir unbekanntem.

Allmählich kann ich Josefs Gesicht vor mir wieder erkennen, er lächelt zu mir herüber und ist sichtlich berührt von meiner kurzen aber intensiven Vision. Jetzt, da meine Erinnerung so klar vor mir steht, sehe ich den Mann mir gegenüber in einem völlig neuen Licht.
„Wie lange habe ich nach dir gesucht.“ Meine Stimme bricht weg, und meine Augen füllen sich mit Wasser, alles, was  so viele Jahre in mir hat warten müssen, steigt nun in mir hoch, erfüllt mein Bewusstsein und lässt eine Flut von Gefühlen über mich hereinbrechen.
Josef streicht sanft über meinen Handrücken, es fühlt sich an, als würde eine Vision Wirklichkeit. „Ich weis, ich habe dich auf deiner Suche begleitet, weit davor und auch danach, bis jetzt. Damals war es zu früh, so sehr du dich auch nach Weltveränderung gesehnt hattest, du warst nicht reif zu diesem Schritt. Du hättest mich niemals erkannt.“ Josefs Augen verlangen mein ganzes Verständnis.

25


„Josef, ich weis immer noch nicht, wer du wirklich bist. Werde ich dich nun wieder verlieren müssen?“ Meine aufkommende Angst ist nicht zu überhören.
„Nein, du wirst mich nicht verlieren, und hast es auch nie wirklich. Diesmal wirst du erkennen, wer ich bin.“
Der Hund erhebt sich und kommt langsam an meine Seite. Er setzt sich und senkt den Kopf. Der warme Brustkorb streift meinen linken Arm und ich kann den Rhythmus seines Atems spüren. Fragend sehe ich Josef an. Dieser lächelt und sagt, „wir sind zu dritt, ich hatte es dir versprochen. Lass dich von der äußeren Erscheinung nicht täuschen. In ihm lebt eine alte Seele. Wir sind gekommen, um mit dir das das zu finden, wonach du schon so lange suchst. In deinem Geiste wirst du eine Reise antreten und wir werden dich begleiten. Du wirst erkennen, wer wir sind und was uns drei dazu bewogen hat, uns auf dieser Welt zu finden.“

Mein Herz schlägt wieder schneller, die Chance auf Erkenntnis steht groß vor mir, erreichbar, wie ein lang ersehntes Geschenk. Der Mann mir gegenüber erhebt sich, holt eine der Kerzen und stellt sie zwischen uns. Ihr Schein untermalt die Szene mit weltentrücktem Licht. Josef mustert mich lange, dann durchbricht seine Stimme das Schweigen zwischen uns.
„Was suchst du?“ Seine Wärme berührt mich und als wäre alles Unwissen von mir gewichen antworte ich spontan, „Ich suche das Wort, das all jene verbindet, welche in Liebe, Licht und Freiheit leben wollen. Ich suche die Insel, auf die wir fliehen können, wenn die Dunkelheit über die Welt hereinbricht.“
Unwillkürlich denke ich an Noah, der die Arche baute, um der Sintflut zu entrinnen. Ich bin nicht Noah, ich habe keine Arche, ich bin ein Sandkorn in der Wüste, und dennoch, ich bitte Gott um diese lichte Insel, denn ich sehe eine Flut der Dunkelheit nahen.
„Wenn du es so siehst, dann schaffe diese Insel selbst, Gott gibt dir was du dafür nötig hast.“ Fragend sehe ich Josef an, glaubt er wirklich, ich könne derartiges entstehen lassen?
„Josef, was ist, wenn ich mich irre?“ der Alte lächelt, neigt den Kopf zur Seite und sagt, „Der Mensch sieht nie alle Dinge der Welt gleichzeitig, er nimmt stets das war, woran er glaubt. Nun, such dir aus, woran du glauben möchtest. Was bleibt dir anderes übrig, als dir die Welt nach deinem Glauben zu errichten. Die Wahrheit wirst du nicht erfahren, solange du in Menschengestalt über diese Erde wandelst. Entscheide selbst, das ist deine Freiheit.“

Josef zerrt an meiner Hoffnung. Wenn die Welt mir immer nur so erscheint, wie ich sie gerade wahrnehme, meine Wahrnehmung sich nach meinem Glauben richtet, was ist dann mit all den anderen? Nehmen sie nicht völlig anders wahr? Wer braucht dann meine Insel noch, wenn nur ich alleine  Dunkelheit erahne? Josef folgte meinen Gedanken und spricht, „Du bist wahrlich nicht allein auf dieser Welt. Es gibt keine Trennung zwischen euch lebenden Geschöpfen. Deine Wahrnehmung gestaltet sich zu einem Teil der Welt, und berührt alles was lebendig ist. Ihr atmet den Atem der anderen, durchschreitet stets dasselbe Licht, solange ihr auf dieser Erde wandelt. Das was ihr an Nahrung zu euch nehmt, ist durch Milliarden anderer Leiber gewandert und wie du weist, sind Gedanken nicht im Haupte eines Wesens eingesperrt. Jedes Wasser, das durch deine Finger rinnt, ist gespeist mit der Sprache einer ganzen Welt. So manches Tier hat seine Angst hineingehaucht, so mancher Baum seinen Lebensgeist darin geweckt. Nichts ist wirklich gut noch böse, nur wenn du versuchst die Welt in ihrem Laufe aufzuhalten, wird sie schlecht. Deshalb stocke nicht das Fließen deiner Kräfte, öffne deine Tore für dein eignes Wunderbares, welches tief und schlafend dir im Geiste liegt.“ Wieder versieht Josef meine Stirn mit einem Symbol. Seine Worte klingen wie Musik und versetzen mich allmählich in einen Zustand des inneren Schwebens. Dieses Gefühl kenne ich nur von langen, intensiven Meditationen. Zu meiner Überraschung beginnt Josef mit tiefer Stimme zu singen. Er benutzt eine Sprache, die mir zwar unbekannt, aber längst nicht fremd ist. Er erinnert mich an einen Schamanen. Seine Augen sind nun halb geschlossen und auch meine nehmen diese Haltung an.




26

Ich kann noch erkennen, wie der Hund sich leise erhebt und den Platz auf dem wir sitzen zu umrunden beginnt. Er geht langsam mit gesenktem Haupt und zurückliegenden Ohren. Seine Augen sind abwechselnd auf Josef und dann wieder auf mich gerichtet. Der sonore Gesang bringt mich in einen Taumel, mein Körper beginnt zu schwingen, als stünde er unter Strom. Meine Augen schließen sich und in mir breitet sich Wärme aus. Das Empfinden für Arme und Beine schwindet und gibt den Weg in eine andere Welt frei. Lichte Farben strömen unaufhaltsam auf mich zu, umringen mich und treiben die innere Schwingung stetig an. Der Duft des Holunders erfüllt alle meine Sinne. Tief in meiner Brust beginnt es zu rotieren, wie ein Rad welches unaufhaltsam schneller läuft, und alle weiteren mit sich reißt. Feuer stößt mir durch den Boden senkrecht rauf durch meinen Ganzen Leib, beginnt sich um sich selbst zu drehen, durchdringt mein Haupt, gestaltet sich zu einer lichten Krone, nimmt in sich auf ein sonnengleiches Licht.
Der Gesang des alten Mannes durchbricht des Raumes Grenzen, die Zeit zerfließt zu einer Ewigkeit. Ich selbst bin längst nicht mehr, was ich gewesen bin, unendlich groß und weit erscheint mein Geist. Zeit umgreifend,  Raum umspannend weite ich mich aus um aufzunehmen alles Leben, was ich je gelebt. Und so erkenne ich auf dem Zenit des Seelenberges den Geist des Alten tief in mir, die Seele neben ihm, im grauen Pelz ist ebenfalls ein Teil aus meinem eignen, wahren Sein. Einst, vor vielen Ewigkeiten teilten wir uns auf in drei um heute einzulösen einen Schwur aus alter Zeit. Auf diese Welt ein Licht zu bringen, um zu leuchten in der Dunkelheit. Die Welt sucht ihren Ausgleich, wir dienen ihr dazu. Wir alle sind nichts anderes, als ein einzig großer Geist, bewusst und unbewusst zugleich. Wir suchen ein Zu Hause, für unser Lebenswerk, geboren und gebaut in Liebe, Licht und Freiheit. Ich bitte Gott um tiefste Gnade für diese neue Welt. Mag für eine Weile uns das Licht als Zuflucht dienen, bis die Dunkelheit auf dieser Erde wieder fortgewichen ist.

Im Rausch des rotierenden Feuers erkenne ich in Höhe meiner Stirn ein blaues Leuchten. Inmitten dieses Schimmers formt sich ein Kreis in dessen Innenraum sich ein dreiblättriges Symbol bildet. Tief darin dreht sich eine Spirale und nimmt durch ihre Drehung die Außenwelt in sich auf. Umrandet ist dieser Kreis durch vier Schranken. Diese Schranken lassen nur bestimmte Farbkombinationen des eindringenden Lichtes durch. Nun erkenne ich um das dreiblättrige Symbol einen Schriftzug. Am unteren Ende lese ich die Initialen HTMMC. Je mehr ich mich auf diese Schrift konzentriere, desto deutlicher vernehme ich die Stimme des Alten, „Geh rückwärts.“ Kann ich zwischen den Gesängen vernehmen. Mir ist, als könne ich mich innerlich umdrehen, sehe rückwärts auf alles Geschehen und lese die Buchstaben von hinten nach vorn. Wieder höre ich Josefs Stimme, „füge nun Klingendes ein.“  Es schiebt sich ein O hinter das C und ein AJ hinter das M, es bleibt ein kleiner Abstand, als nächstes folgt ein E, dieses fügt sich zwischen M und  T, als letztes taucht wieder ein A auf und platziert sich zwischen T und H. Vor mir stehen zwei  Worte, klar und deutlich erkenne ich  COMAJ METAH. Jetzt erfasse ich allmählich, dass Josef diese beiden Worte singt. COMAJ METAH; COMAJ METAH; COMAJ METAH. Der Gesang begleitet mich durch meine innere Rotation, verlangsamt sie allmählich. Ich steige herab aus höchsten Höhen, wie durch einen Trichter gleite ich von oben in meinen Körper hinein, dessen einzelne Zentren noch immer zu glühen scheinen. Josef singt leiser, behutsamer, und kühlt somit mein Feuer auf erträgliche Wärme. Mein Geist nimmt seinen gewohnten Platz ein, und durchflutet wieder Arme und Beine. Mein Bewusstsein erfasst wieder die biologischen Funktionen des Körpers. Er war lange sich selbst überlassen. Eine Zeit lang scheint dies wirklich möglich zu sein. Ich atme tief durch, dabei wird mir etwas übel und meine Haut fühlt sich frostig an. Josefs Stimme verstummt, der Hund scheint die ganze Zeit um mich gegangen zu sein, als hätte er dafür gesorgt, dass ich die Bindung zur Welt nicht verliere. So langsam beginne ich durch den Raum zu blinzeln. Endlich sehe ich wieder Josefs Gesicht.

27


 Sein Blick ruht gelassen auf mir. Wir sehen uns lange an, ernst, wissend um eine Ewigkeit, und, ein und das Selbe zu sein. Der Hund legt sich neben Josef und sieht mich ebenso ernst an, ein Teil unserer Selbst und sich dessen voll bewusst. Stück für Stück erhellt sich vor mir die Gewissheit, dass ich nicht mehr bin, was ich vor dieser Reise war. Grenzenlos ist alles geworden, selbst mein Inneres verschmelzt bei jedem Gedanken an die Ewigkeit mit allem, was mich umgibt. Ich habe diese Insel des Lichtes gesehen und nichts und niemand kann diese Erfahrung streitig machen. Was in mir lebt, existiert auch außerhalb, weil es keine Grenzen gibt. Ich atme mich selbst in Welt.

Ich senke meinen Kopf und sehe auf vier Hände, die sich langsam erheben und nacheinander greifen, sie umfassen sich in liebevoller Wärme, der große Graue lehnt sich anmutig an Josefs Körper. Ich sehe Josef an. Tief in seinen Augen ist die Farbe des Meeres, ein Lächeln umspielt seine Lippen. „Es war wunderbar, dich zu erleben, von unserer Seite aus zu erkennen, wer wir sind. Die Zeit der Trennung ist vorüber.“ Josef drückt meine Hände etwas fester, sein Blick versinkt in meinem und das Wogen des Meeres ergießt sich in mein Herz. um seine Gestalt verschwindet  die Welt, meine Handflächen brennen wie Feuer, und Tränen rinnen über mein Gesicht. In der Mitte meines Seins öffnet sich das Tor des Lebens und alles, was einst in mir war, kehrt heim. In einer inneren Umarmung heiße ich euch willkommen. Mein Körper beugt sich weit nach vorn. Mein Gesicht lege ich auf die Knie und ich weine.
Wie lange habe ich nach dir gesucht, wie viele Jahre der stillen Sehnsucht trieben mich durch ein Leben voller Fragen? Die Liebe war ein stummes Band und niemand konnte je erfüllen, was diese Liebe mir versprach. Nun bin ich vereint zu einem Ganzen und all die tiefe Sehnsucht ist erfüllt, gestillt ein lebenslanger Hunger und grenzenlose Dankbarkeit erfüllt mein Herz.

Allmählich versiegen meine Tränen, ich finde in die Wirklichkeit zurück. Der Boden ist kalt und um mich herrscht Dämmerung. Ich sehe mich im Raum um, er ist leer, ich sitze auf dem kalten, harten Stein. Der Holunderstrauch steht noch, in seiner vollen Pracht, dort wo er auch gestern war. Ich friere.
Mühevoll richte ich mich auf und gehe zur Tür, sie steht offen und ein kühler Lufthauch zieht hindurch. Die Treppe nach oben ist aus Stein, nichts mehr von dem alten Holz zu finden. Oben angekommen empfängt mich grelles Morgenlicht. Ich stehe da, umringt von Resten einer alten Scheune, umwuchert von einem gewaltigen Holunderstrauch. Mein Rucksack lehnt an einem Stein. Ich setze mich auf die herunter gebrochene Mauer und sehe dem Sonnenlicht entgegen. Was habe ich erwartet? Niemand außer mir befindet sich in diesem Trümmerhaufen. Mir ist, als hätte man mich aus einer anderen Welt hinaus geworfen. Ich ziehe meinen Rucksack zu mir her. Er fühlt sich feucht an. Hat er die ganze Nacht hier draußen gestanden, während ich im Keller einer Scheune hockte, ich wage es kaum zu denken, vielleicht einem Traum verfallen bin? Josef, du warst mir so nah, so wirklich, alles war so lebendig. Ich habe Durst, suche nach der Wasserflasche, finde sie und ziehe sie mit einem Ruck unter der zusammengerollten Jacke hervor. Ich stelle den Rucksack etwas zur Seite und  erkenne den rechteckigen Abdruck eines Gegenstandes in der kleinen Seitentasche. Was da vor mir sichtbar wird, lässt  mein müdes Herz schneller schlagen. Der Block des alten Mannes. Ich nehme ihn heraus und lese auf dem ersten Blatt: 
                                                
                                                   

                                                  VOM MEER SIND WIR HER
                                                   MEER WIRD MEER
                                                   GEHEN WIR DARÜBER
                                                   SO WISSEN WIR WER              

                                                    HTMMC

28

Es war kein Traum! Auf einen Schlag erwache ich aus meinem getrübten Zustand, Josef war Wirklichkeit, ebenso, wie dieser Hund, er lies mich fühlen, was ich mir sonst nicht zugestanden hätte, verkörperte reinstes Empfinden und zwar genau jenes, zu dem ich mir seit Jahren jeglichen Zugang verwährte. Ich hatte es verantwortlich gemacht, für so manchen Irrtum. Der Hund verkörperte den Teil in mir, den ich aus Angst verbannt hatte.  Er diente als ein Bindeglied zwischen Josef und mir. Ohne dieses reine Empfinden hätte ich Josef nie wieder gefunden. Immer wieder streiche ich mit dem Finger über die fest mit Bleistift eingedrückten Großbuchstaben. Ich fühle, was er geschrieben hat. Er war hier. Tief in mir spüre ich ein leichtes Rotieren, ein Schwingen und die Erinnerung an Josefs Augen steht so lebendig vor den Meinen, dass ich glaube, sie wirklich zu sehen. Er ist ein Teil von mir, so wie ich ein Teil von ihm bin. Wir haben uns getrennt um uns zu erkennen und uns am Ende wieder vereint. Ohne diese Trennung, hätte ich den Zugang zur Welt nach oben nicht erreichen können. Ich entließ Josef aus meiner Seele, um eine Verbindung herzustellen zwischen der Zeit und der hier nicht wahrnehmbaren Ewigkeit.  Anders wäre es wohl nicht gegangen.
Ich nehme meinen Rucksack auf und schlage die Richtung ein, aus der Josef und ich gekommen waren. Es dauert nicht lange, und ich finde den Weg, der mich nach Hause bringt.
Während des Gehens summe ich eine Melodie und immer wieder flüstert mir das Wort seine geheimnisvollen Klänge ins Ohr. Glücklich lassen sie mich sein, und voller Hoffnung.


29

Die Insel


Der Weg nach Hause schien kürzer als sonst, die Sonne steht wieder hoch am Himmel, ich betrete den Flur meines Hauses und habe das Gefühl, als wäre die Zeit stehen geblieben, es fühlt sich an, als hätte ich eben erst das Haus verlassen.
In meinem Zimmer ist es warm, die Heizung lief über Nacht und meine Kaffeetasse steht noch auf meinem Schreibtisch. Mein Blick fällt auf ein mit Schrift bedrucktes Blatt Papier. „Das Wort“ das war der Anfang, nun habe ich es mitgebracht und trage es wie einen Schatz in meinem Herzen. Die Erinnerung an die Ereignisse der letzten Stunden gleicht einer neuen Software, einem neuen Programm mit dem es nun zu arbeiten gilt. Es scheint meine innere Struktur völlig zu verändern. Mein Rucksack fühlt sich kalt und frisch an, und duftet nach Waldboden. In den vorderen Taschen finde ich einzelne kleine Holunderblütensterne. Den Block des alten Mannes lege ich auf die Schreibtischplatte, mittig, als wäre er das Zentrum des Geschehens.
Ich schlüpfe in bequeme Kleidung, und widme mich erst der Kaffeemaschine. Die auf dem Rückweg gekauften Brötchen verbinden mich wieder ein wenig mit dem Alltag. Unwillkürlich denke ich an Josefs Küche, jetzt, da ich die Butter auf dem Brötchen verteile, an seine Plastikschiffchendose, auf kaltem Wasser treibend. Ein Lächeln schleicht sich ein, und ich frage mich wieder, „was ist Wirklichkeit?“ Die Erinnerungen sind so detailliert und gegenwärtig, dass ich nicht gewillt bin, an ihrer Wahrhaftigkeit zu zweifeln und was spielt es denn für eine Rolle, jetzt, wichtig ist, was geblieben ist und das ist ein Juwel an Erkenntnis.
Nach dem Frühstück fühle ich mich stark genug, mich noch einmal all dem zuzuwenden, was hinter mir liegt, das Programm zu aktivieren um zu sehen, was ich damit anfangen kann.

Mit einem großen Block und einem Kugelschreiber ausgestattet platziere ich mich auf meinem großen Sofa. Die schweren Vorhänge halten das Licht draußen, das Telefonkabel ist aus der Wand gezogen und die brennenden Kerzen bringen mir ein Stück Vergangenes wieder. So gerne möchte ich aufschreiben, was mich bewegt, ich kann es nicht. Es ist einfach zu viel auf einmal. Also lege ich den Block beiseite, halte ihn parat für eventuell Wichtiges. Josef, mein Gedanke an ihn erfüllt mich mit einer solchen Wärme und Liebe, dass ich für einen Augenblick glaube, mich selbst zu verlieren. Wer bin ich denn, dass ich glaube, mich verlieren zu können? Kann ich nicht überall sein, in alltäglich erlebter Wirklichkeit, im Traum, im geboren werden und im Sterben? Bin ich nicht alles und gleichzeitig nichts wirklich Fassbares? Vor meinem inneren Auge verschwimmen Gegenwart und Vergangenheit um sich einer unbestimmten Zukunft zu ergeben. Das Innenleben meines Hauptes formiert sich neu, es ist, als könne ich zusehen, wie es neue Verbindungen knüpft, alte, nutzlose oder störende werden endgültig gekappt. Raum entsteht im Funkengewirr der Signale und er schafft sich Platz, ER, auf den ich so lange gewartet hatte. Immer noch nenne ich ihn Josef obwohl ich längst weis, dass er Teil meiner selbst geworden ist und es im Grunde immer war. Erst durch die Trennung war Vereinigung möglich und diese zeugte  die Möglichkeit des Neuen, welches nun wartet auf die Niederkunft eines Lebens welches hier auf dieser Welt gedeihen soll.
„Josef“, sanft entweicht der Name meinem Herzen. Allein der Wunsch nach seiner Wirklichkeit schafft ein Band an dessen Ende er  erscheint.
Der alte Mann sitzt lächelnd auf dem Sessel. Mein Geist wirkt berauscht und als würde meine Wahrnehmung doppelgleisig fahren, so erfasse ich im Augenblick die Welt um mich wie durch ein Hologramm. Ist dies der Zustand, den man allgemein als verrückt bezeichnet? Ja, ein Teil von mir rückt im wahrsten Sinne zur Seite, und lässt diese Doppelgleisigkeit zu.










30

Nichts davon ist Irrsinn, es ist real, für mich, für wen sonst sollte es auch sonst bestimmt sein. Getrost werte ich den Anblick Josefs als eine Fähigkeit, einem Teil meines Ichs den Weg nach draußen zu  gewähren, um auf klare Weise mit ihm kommunizieren zu können. Ich richte mich auf und erfreut betrachte ich den Mann mir gegenüber.

„Du bist weniger besorgt, als ich befürchtet hatte.“ Josefs Stimme klingt etwas amüsiert.
„Seit gestern musste ich eine Menge Vertrauen in mich und meine Wahrnehmung entwickeln, Besorgnis spare ich mir auf für die wirklich unheilvollen Dinge.“
Auch ich kann mir das Lachen nicht sparen, „es ist schön, dich zu sehen und mit dir sprechen zu können. Was fangen wir nun an, mit uns, dem Wort und allem, was du mir hinterlassen hast?“ Gespannt warte ich auf seine Antwort. Während Josef mich mit nachdenklichem Gesicht betrachtet, fühle ich in mir seine geistige Aktivität, als könne ich seine Gedanken begleiten und seine Schwingung ist die meine. Nach einem Augenblick der Stille erklingen die Worte:
„COMAJ METAH“

„Dies ist der Anfang einer neuen Zeit, einem neuen Raum, der existieren wird mitten unter uns, um all jene zu verbinden, die in Liebe, Licht und Freiheit ihr Werk auf dieser Welt verrichten wollen.“

Es ist, als würde sich Josefs Stimme in den Klang der meinen versenken und wie im Chor vernehme ich eine Sprache von völlig neuer Qualität, alles Lebende durchdringend, in Schwingung versetzend, Zeit und Raum überwindend und letztlich, schaffend an der Wirklichkeit. Während die Sprache mich begleitet, sehe ich über meiner Stirn das Zeichen, welches ich bereits in der Holundernacht erkennen konnte. Das dreiblättrige Symbol umringt mit dem Wort und seinen Lichtschranken und ich höre, wie unsere Stimmen sich verlangsamen und tiefer werden.

„COMAJ METAH ist die Insel des Lichtes, auf ihr finden wir uns wieder. Wenn Dunkelheit die Welt ummantelt, so wird sie uns die Heimstatt sein. Durch ihre Schranken fließt nur reines Licht aus Liebe die sich frei entfalten kann und Schutz all jenen bietet die Zuflucht in ihr suchen. Die hohe Achtung vor dem Sein, das aus göttlichem Impuls entstand, sei oberstes Gebot, aus diesem dann entspringen all die anderen, um zu gewähren klare Weisheit in jenem, dieser heiligsten Gefilde. Es ist der Ort an dem sich wahrhaft Liebende zu tiefst  verbinden, im Geiste, weit erhaben über Raum und Zeit. Einzig und allein die Sprache unsrer Seelen legt vertrauensvoll ein goldnes Band um uns. Nichts, was aus der Finsternis heraus zerstörend wirkt, dringt ein in dieses Licht, dies sei gegeben, hier vor Gott, auf alle Zeit.
So lasset uns die Hände reichen, im Geiste wie im Herzen, als eine Einheit uns entfalten, im Liebesschwur die Welt im Lichte zu erhalten.“





31


Eine ganze Zeit herrscht Stille. Der Nachhall des Gesprochenen schwebt noch im Raum. In Liebe verbunden, im Lichte vereint durch die hohe Achtung vor dem Sein. Es ist Balsam auf meiner Seele und immer wieder lasse ich ihn darüber streichen, alte Wunden heilen und meinen Geist gesunden. Josefs Augen sind immer noch auf mich gerichtet, bahnen sich einen Weg in mein Bewusstsein und lassen seine Stimme folgen.
„Ist es nicht das, was du wolltest? Die Welt verändern, und nun hast du es getan. Du fügtest nur ein kleines Stück hinzu, ein bisschen Freiraum, ein wenig Licht, abgeschirmt von aller Dunkelheit.“
Ich werde nachdenklich, betrachte Josef, wie er da gelassen im Sessel ruht.
„Was geschieht nun mit diesem Freiraum, wie ist er zu erreichen und wem soll es gelingen? Wie kann ich sicher sein, dass die Dunkelheit nicht eindringt, dass dieser Raum nicht von unbefugten beherrscht wird. Es gibt immer auch Geister unter uns, die nichts Gutes im Sinn haben und nur nach ihrem eigenen Vorteil trachten.“
Im Grunde weis ich die Antwort längst, brauche jedoch Josefs Bestätigung.

„Dieser Raum ist auf eine Art beschaffen, welche nur bestimmte Frequenzen von Schwingung einlässt. Ist ein Wesen in seiner Struktur dem vorherrschenden Licht nicht gewachsen, wird er es meiden. Je mehr Seelen sich an diesem Ort wieder finden desto mehr Schutz gewährt das Feld. Gehe mit Bestimmtheit davon aus, dass es so ist, und nicht anders, auf diese Weise gestaltet sich die Wirklichkeit, bevor sie die Ebene des Großstofflichen erreicht.“
Diese Antwort stellt mich zufrieden. „Wie sollen andere davon erfahren? Ich kann nicht jedem, der mir begegnet von einem geheimnisvollen Wort  erzählen, man würde mich für verrückt halten.“
Josef lehnt sich zum Schreibtisch hinüber und greift nach dem beschriebenen Papier, sieht es sich an und legt es dann in meine ausgestreckte Hand.
„Das Wort“, ein guter Anfang, und spätestens ab diesem Augenblick, weis ich was zu tun ist. Ich lächle Josef dankbar zu, mein Blick versinkt in seinen so liebevollen Augen. Es öffnen sich die Tore meines Seins und Josef kehrt auf seinem nun bekannten Wege heim. Ohne Tränen und mit unendlicher Freude nehme ich ihn auf.
Eine tiefe Dankbarkeit erfüllt mich und die Gewissheit, etwas geschaffen zu haben, im Geiste, woran andere teilhaben können beflügelt meine kreativen Kräfte.

Der Duft frischen Kaffees erfüllt den Raum, der Rechner läuft und ich weis um die nächsten Tage, in denen ich ungestört arbeiten werde. Ein Leben lang habe ich auf diesen Tag gewartet.


32

COMAJ METAH


Ich erhebe mich langsam von meinem Schreibtisch, zwischen meinen Schulterblättern spüre ich den üblichen, stechenden Schmerz, trotz meiner Yogaübungen und Waldläufe. Meine letzte Kontrolle auf der Waage ergab, dass ich innerhalb von zehn Tagen, vier Kilo verloren habe. Kaffee, Wasser, etwas Brot und Obst waren meine einzigen Nährstofflieferanten. In der ganzen Zeit des Schreibens klingelte mein Telefon nicht ein einziges Mal, was mir bis heute ein Rätsel blieb. Die Nächte wurden lang, und ich brauchte erstaunlich wenig Schlaf. Vor mir liegt ein fertiges Manuskript und mit allen Mitteln, die mir zur Verfügung stehen schicke ich es in die Welt. Soll es seinen Weg gehen.

Nach einer ausgiebigen Dusche entscheide ich mich zu einem kurzen Spatziergang. Der späte Nachmittag lässt lange Schatten auf die Straßen fallen. Der Sommer hat heute seinen Einzug gehalten, und das Wohnviertel umgibt mich mit seinen vertrauten Geräuschen. Der Weg Richtung Wald ist noch nass vom gestrigen Regen und ein würziger Duft liegt über dem Erdboden. Quer über dem Weg liegt ein  umgestürzter Baum, so dass ich über ihn klettern muss. Die Sonne zwinkert zwischen den Tannen hindurch und aus der Ferne höre ich einen Bussard rufen,  hoch oben kreist er am stahlblauen Himmel. Silbergrüne Pappelblätter zittern im warmen Strom der Sommerluft und ich bin einfach nur glücklich darüber, dass ich es geschafft habe, jenes Geschehen der letzten Tage und Wochen in ein Schriftstück zu fassen.

Noch einmal lasse ich die Ereignisse Revue passieren, und denke, erfüllt mit guten Empfindungen, an jene,  welche sich dieser Schriften annehmen werden.
Ich denke an dich, der du dieses liest, unbekannt für mich, und dennoch nah, da du teilhast an jedem einzelnen Wort, miterlebst, wie sich Bedeutung entfaltet und sich in deinem Sein, auf deine Art zu spiegeln beginnt. Wieder sehe ich die Welt wie ein Hologramm, jeder einzelne von uns reflektiert seine Wahrnehmung des Ganzen, um somit das übergeordnete Bildnis zu erschaffen, gleich einem gewaltigen Bewusstsein, sehend, fühlend, wahrlich erlebend.
Lass uns in diesem göttlichen Gebilde ein Feld des Lichtes erzeugen. Ich weis, es ist nicht leicht, sich auf etwas einzulassen, von dem man nie ganz sicher sein kann, dass es wirklich existiert. Was bleibt uns, als einfach nur zu glauben? Vielleicht macht das die Dinge wahr.


Tief in meinen Gedanken versunken bemerke ich erst jetzt, dass die Sonne längst untergegangen ist. Über dem Abendrot färbt sich der Himmel violett. Im Osten steht viel versprechend die orange Scheibe des aufgehenden Mondes über den Wipfeln der fernen Tannen. Still stehe ich und lausche den letzten Vogelstimmen, die sich noch hier und da erheben. Die Bank hinter mir lädt ein die Ruhe zu genießen. Die Hände in den Jackentaschen vergraben sehe ich unverwandt auf den immer heller werdenden Mond.




- 33 -
Das Bild verschwimmt, das Licht wird heller, erfüllt mein ganzes Sichtfeld, als würde ich durch Wasser sehen. COMAJ METAH flüstere ich leise vor mich hin, und voller Sehnsucht spreche ich:

„ich ruf nach Euch
die ihr in höchster Achtung
der göttlichen Erhabenheit
auf alle Zeit
das Seelenlicht geschenkt
im Namen dieses Höchsten
lasset uns im Geiste nun
die Hände reichen
in Liebe, Licht und Freiheit
werden wir der Welt
zum Lebens - Zeichen.“



Während ich diese Worte sprach, tauchten in mir farbige Gebilde auf. Es ist, als stünde ich mitten im Geschehen. Angestrengt beobachte ich die nahenden Gestalten, welche sich in ständiger Bewegung fließend umeinander reigen. Sie kommen näher, aus allen Richtungen, Höhen und Tiefen. Ich nehme kaum noch den Boden unter mir wahr, als würde ich im Raume schweben, nähere auch ich mich den in sich rotierenden Farbenspielen. Deutlich vernehme ich den Duft von Holunderblüten, die weißen Sterne der Nacht. Ein wenig Verwunderung ist alles, was ich in mir finden kann, darüber, dass nichts um mich irgendeinem physikalischen Gesetz gehorcht. Sanft schimmert das Blau, so licht, und wie es  umspielt das Violett des Anderen. Immer mehr von diesen wunderbaren Lichtgeschöpfen finden sich hier ein, und wie in einem Freudentaumel beginnen sie den Tanz des Lebens. Als würden sie sich tief verneigen, Einer vor dem Anderen, erkennen sie einander an. Mir ist, als könne alle Finsternis der Welt entweichen, es bleibt allein das reinste Licht des  Seins. In tiefer Dankbarkeit verlasse ich das Heimatlicht und schließe meine Augen. Die Bank aus Holz wird wieder Wirklichkeit. „Josef“, denke ich, „wir haben es geschafft!“



Erleichtert und mit einem unbeschreiblich großen Glücksgefühl lasse ich meinen Kopf in den Nachen fallen, sehe in den dunklen Abendhimmel und atme einige Male tief durch.

        Es ist möglich, ja, es ist tatsächlich möglich!

Mit diesem Gedanken erhebe ich mich von meiner Bank, und gehe, mit einem Lächeln im Gesicht,  nach Hause.

                                            Liebe ist das tiefe Gefühl von Verbundenheit
                                              
                                                                  COMAJ METAH











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Fliehen

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