Sonntag, 24. Januar 2021


Ein evolutionärer Schritt

Auf einmal war es da, etwas, das wir vorher so nicht gekannt haben. Erst war es so weit weg, irgendwo in China, man hatte kaum eine Vorstellung davon, wo dieser Ort war
an dem es das erste Mal seine Runden schlug und viele tausende von Menschen in ihre Häuser zwang sie von den Straßen vertrieb, aus den Geschäften und den Märkten verbannte
und plötzlich lagen so viele in den Särgen, dass sie in Kühlwagen gestapelt werden mussten.
In weiß verhüllte Gestalten wanderten über die Straßen im Sprühnebel von Desinfektionslösung.
Als uns diese ersten Bilder erreichten, hatten wir bereits verloren.
Es war längst ausgereist aus seiner Kinderstube, wie ein blinder Passagier zog es seine Bahnen quer durch die Kontinente.
Dabei waren es eher wir, die blind waren, denn wir haben die Gefahr unterschätzt, stiegen unbedarft in Flugzeuge und trugen es von Ort zu Ort. Wir feierten noch fröhlich Karneval und das Virus feierte mit und verdiente sich seinen Namen.
Covid 19 war in aller Munde, und vor diesem hing bald ein buntes Stofftuch.

Die Straßen weltweit leergefegt, der Papst in Rom alleine auf einem riesengroßen, verregneten Platz, verloren in seiner Osterpredigt. Die Stadttauben begannen zu verhungern, wer hätte das gedacht.
„Stey at home“ war nun die Devise, Abstand halten, Hände waschen, Desinfektionsmittel an allen Ecken. Das Phänomen „Klopapier“ steht wie ein Wahrzeichen über diesen Wochen. Streit im Supermarkt vor leeren Regalen. Was um alles in der Welt haben die Leute mit diesen Papierrollen angestellt? Und da war noch so viel Hoffnung, wir sangen aus den Fenstern und klatschten für die Systemrelevanten und waren hilfsbereit wie selten zuvor.
Diese erste Hürde, ach, die nehmen wir mit links, in ein paar Wochen ist der Spuk vorbei, vielleicht ein bisschen aufgeplustert das Ganze, bis sich in Bergamo die Leichen stapelten. Da spürten wir, dass Corona kein Event war.

Pandemie, ein Wort, das wir sonst nur aus der Ferne kannten gehörte allmählich zu unserer Alltagssprache. Sie bestimmt unser Leben, auf der Arbeit, im Privaten, sie sagt, wen wir treffen dürfen und wen nicht, ob wir reisen dürfen und wenn, wohin. Fragen wurden immer lauter und jene, die längst in virtuellen Parallelwelten ihre „Quellen“ der Information zu finden glaubten, betraten jetzt einen Nährboden, auf dem Misstrauen und Hass in rasender Geschwindigkeit seine Wurzeln versenkte. Die Schuld lag somit bei den Entscheidungsträgern, die ach so Böses im Sinn haben, doch dass auch diese sich im Kampf gegen dieses Unbekannte winden, ist einfach nicht spektakulär genug. So trennten sich die Welten und leben nebeneinander her und eine Gesellschaft wird sich selbst zum Feind. Wer jetzt hinterfragt tritt ohne es zu wollen in den Abgrund dieser finsteren Welt.

Doch der Sommer ließ ein wenig Luft zum Atmen, draußen ist alles halb so wild und so vergaßen wir immer öfter dieses kleine, im Hinterhalt lauernde Ding. Bis es uns wieder einholte und wir in unserer alten Gewohnheit auf unsere Rechte bestanden. Trotz Verbote wurde gefeuert und gefeiert und so begann das neue Jahr für viele auf den Intensivstationen. Die Alten und Kranken sterben einsam hinter ihrer Beatmungsmaske, die im grausamen Takt das Leben zu erhalten versucht. Dem Kranken- und Pflegepersonal steht das Wasser bis zum Halse. Die Geschäfte geschlossen, die Paketzusteller laufen sich die Sohlen von den Füßen und so mancher graue Haaransatz prangt auf den Häuptern der Damen. Der Lockdown verlängert, mal wieder, und uns geht allmählich die Luft aus, auch ohne Corona. 

Wir wünschen uns die alte Normalität zurück. Die wird es nicht mehr geben, dafür hat sich in der Zwischenzeit viel zu viel verändert. Wir werden aufwachen in einer Welt, die wir nicht wiedererkennen werden. Eine angeschlagene Wirtschaft wird ihren Tribut fordern, in vielerlei Hinsicht. Doch das wird längst nicht alles sein. Wir werden uns verändert haben, neues Verhalten antrainiert, altes abtrainiert, Vertrauen verloren. Ängste graben sich ihre Bahn und nisten sich ein. Dennoch wird es eine neue Art Vertrauen geben, jenes in uns selbst und unsere Fähigkeiten. Wir werden gereift sein, wie nach einer langen Krankheit. Wir werden gelernt haben, zu verzichten, uns zurück zu nehmen, zu warten und für die Gemeinschaft zu denken und nicht nur für uns selbst. Wir werden wissen, dass es sinnvoller ist, unsere unmittelbare Umgebung zu schützen, zu stärken und zu beleben, als sorglos in der Welt herum zu reisen. Wir sind zu viele, und wir begehen an der Natur zu viele Fehler, als dass wir uns ein solch sorgloses Verhalten erlauben könnten. Wir werden gelernt haben, virtuell zu kommunizieren und uns auch auf Abstand zu verstehen. Es wird selbstverständlicher, schnell auf Gefahren zu reagieren und gut vernetzt zu sein. Im besten Falle werden wir gelernt haben, was das Leben auf dem Planeten Erde wert ist. Diese Pandemie hat das Potenzial uns all die Fähigkeiten und Eigenschaften zu vermitteln, die wir in naher Zukunft dringend brauchen werden. Unsere Klimaveränderung wird die nächste und noch viel größere Herausforderung sein. Vielleicht sollten wir uns bewusst machen, dass wir gerade einen evolutionären Schritt in unserer Menschheitsgeschichte gehen, der uns und unsere Welt verändern wird. Und diesen Schritt, sollten wir ganz bewusst mit allen Sinnen gehen.




Fliehen

  Es reißt das Leben Lücken In dein Auffangnetz Unbarmherzig Unvermutet Ohne Vorbereitung Es will halten, es will schützen ...