Freitag, 26. September 2014

Die Idee vom "Nicht-Ich"



Text aus dem Jahr 2009

Vor einigen Tagen entschied ich mich, auf Grund diffuser Unzufriedenheiten mit meinem Ich, nach einer Art Mentor zu suchen, und da ich aus Erfahrung wusste, dass es mir auf dieser Welt sowieso niemand recht machen  wird, suchte ich diesen Mentor in meinem Inneren. Ich hatte ja schon ein wenig Übung mit dem Hören nach innen.
Es dauerte nicht lange, da zeigten sich auf meine Fragen hin Antworten in Form von spontan einfallenden Gedanken, die ich sofort nieder schrieb.
Mein Mentor zeigte sich als logisch denkendes, erwachsen anmutendes und geduldiges Wesen. Er nahm mich an, wie ich war, schien mich schon einige Zeit zu kennen und stellte mir hin und wieder recht provokante Fragen, war aber auch durchaus in der Lage, mir komplizierte Dinge ganz einfach zu erklären.
Was mir besonders an ihm auffiel war, dass er mir sehr viel Freiraum lies und mit einer endlos scheinenden Geduld irgendwo neben mir herging.
Gleich, welche Frage ich stellte, eine Antwort lies nicht lange auf sich warten. Allerdings, die richtigen Fragen zu stellen erfordert ein gewisses Maß an Übersicht. Immer noch drehte sich alles um mein Ich und mein Mentor drehte sich geduldig mit, bis ich ihn eindeutig bat, mir eine Art „Erleuchtung“ teil werden zu lassen.

Einige Tage später fiel mir ein buddhistisches Lesewerk in die Hände, das ich schon mehrfach durchgearbeitet hatte. Und wieder las ich es mit Bewunderung einerseits und mit ablehnender Skepsis andererseits.
Es versuchte eindeutig mein Ich zu vernichten!
Die Worte „Mitgefühl“ und „Altruismus“ waren mir schon vertraut, und ich hielt sie auch für wichtig, aber die Forderung, an nichts mehr auf dieser Welt zu hängen, von allem loszulassen, danach zu streben, diese Welt  zu verlassen und bloß nicht wieder geboren werden um endgültig dem Leid zu entkommen, in dem ich die Existenz meines Ich einfach für nichtig erkläre, das ging mir zu weit, und hinterließ in mir ein Frustgefühl. Ein Gott, der mich auffängt und in eine Art Himmel begleitet war auch nicht in Sicht. Jetzt verlor ich endgültig den Boden unter den Füßen und mein Leben fühlte sich schwammig an.

Es gab nichts mehr, an das ich wirklich glaubte und stellte weiterhin den Sinn dessen, was ich dachte und tat in Frage. Unbewusst schien ich dieses Ich längst anzuzweifeln. Was sich da so vehement wehrte war wohl mein Ego, der Verteidiger des Ichs. Er argumentierte damit, ich könne mich doch nicht zum Opfer meines Umfeldes machen, indem ich das Wohl des Anderen vor mein eigenes stelle.
Bisher stand ich auf dem Standpunkt, zuerst kümmere ich mich um mein eigenes Wohl, und dann um das eines anderen, denn wer profitiert von mir, wenn ich nicht in Ordnung bin? Klingt erst einmal logisch.
Wahrscheinlich war es für den Entwicklungsstand auf dem ich war auch angebracht, sonst wäre ich wohl nicht weiter gekommen. Doch je mehr ich mein Ich verteidigte, desto schlimmer wurde alles, immer mehr Schutzmauern waren nötig, um ungewollte Eindringlinge fernzuhalten. Der Schuss ging nach hinten los und  es kam der Tag, an dem dieses Denken seinen Sinn verlor, das wurde mir immer bewusster.

Meinem Drängen nach „Erleuchtung“ wurde scheinbar nachgegeben, als ich zufällig in einem der dritten Programme im Fernsehen einen buddhistischen Mönch sprechen hörte. Die Sendereihe mit dem Namen „auf dem Pfad der Erleuchtung“ brachte einige interessante Gespräche mit geistig weit gereisten Menschen.
Nun konnte mir jemand endlich erklären, was es mit dieser Erleuchtung auf sich hat.
Erleuchtung ist die Erkenntnis über die Illusion des Ichs. Ja, da war es wieder, das Ich und seine bevorstehende Eliminierung durch Einsicht. Durch diese Erklärung allein konnte ich jedoch zu dieser Einsicht nicht gelangen.
Man sagt, durch Meditation könne man zu solchen inneren Erlebnissen kommen. Dieser Mönch saß bis zu fünfzehn Stunden am Tag und meditierte. „Du musst bereit sein, auf diesem Kissen zu sterben“ sagte er. Allerdings fügte er auch hinzu, dass es sicher auch andere Wege zur Erleuchtung gäbe, als ZaZen zu praktizieren. Das beruhigte mich unwahrscheinlich.

Ich war nie ein Freund vom „Still sitzen“.  Es fällt mir wirklich schwer, aber es ist möglich, wenn ich will, doch kommt nicht viel dabei heraus.
Bei mir entspringen die Ideen, Erkenntnisse und die surrealsten Kreationen während der Bewegung. Ich lebe und bewege mich, handle und beobachte, das ist meine Meditation, wobei ich keinesfalls ausschließen will, dass die stille, sitzende Meditation andere, mir vielleicht unbekannte Ergebnisse zeigt.

Ich begab mich also in eine meiner Meditationen, schnitt einem Hund die Haare, und dachte über das Ich nach.

Da war aber nichts, über das ich hätte nachdenken können, und beobachtete jeden meiner Handgriffe. Wer entscheidet in mir, was ich gerade tue, wenn es kein Ich gibt? Wer beobachtet die Handgriffe, wer beurteilt das Ergebnis? Da ist ein Bewusstsein, das alles wahrnimmt, wie eine Sammelstelle von Eindrücken. Es scheint sich zu bewegen, zu reagieren auf ein Umfeld und auf ein anderes Bewusstsein einzuwirken, so dass dieses wiederum reagiert und sich bewegt. In diesem Falle war es das Bewusstsein des Hundes, welches ich ihm jetzt unterstellen muss. Was reagiert da, was bewegt sich da, ich bekam es nicht wirklich zu fassen. Ein substantielles Ich war schon gar nicht zu finden.
Ich spürte meine Hand, das Fell des Hundes und die metallene Schere. Da sind nicht wirklich Grenzen. Die Bewegung des Hundes war auch meine Bewegung, nahtlos gingen sie ineinander über.
Das Bewusstsein des Hundes schien mit meinem verbunden zu sein. Inwieweit unterschieden sie sich wirklich voneinander?
Und da kam die Idee von einem übergeordneten Gesamtbewusstsein.
Gedacht hatte ich diesen Gedanken schon öfter, aber die Reichweite der Konsequenz dieses Gedankens war mir nicht klar geworden. Ich hatte ihn nie zu Ende gedacht.

Ein Gesamtbewusstsein aller lebenden und empfindenden Wesen würde ein persönliches Ich überflüssig werden lassen. Das persönliche Ich ist ein Konstrukt psychologischen Denkens, eine Idee aus der Neuzeit, die vielleicht ein überproportionales Ego hat entstehen lassen? Wenn die Idee vom Ich so überdimensioniert groß ist, wundert es mich nicht, dass wir uns in dem Wahn, wer sein und was haben zu müssen, voneinander abgrenzen, uns gegenseitig zerstören und unsere Umwelt gleich mit dazu.
Wenn das das Resultat einer Vorstellung vom Ich ist, muss daran etwas krank sein.

Angenommen, das Ich ist wirklich eine Illusion, und nichts weiter als ein substanzloses Gedankenkonstrukt, was sollte ich dann schützen? Wofür kämpfen? Was würde ich da opfern, wenn ich altruistisch wäre?

Ich stelle mir ein universelles Gesamtbewusstsein vor, das sich scheinbar selbst erleben will, in dem es sich in unterschiedlichen Lebensformen „äußert“. Äußern heißt für mich, sich von innen nach außen kehren, und damit materielle Substanz annehmen um wirken zu können in einer „Wirklichkeit“.

Nun muss ich noch etwas dazwischen fügen. Wenn ich ein Bild male, und mich völlig darauf verlasse, intuitiv das Richtige zu tun, ohne es selbst vorher zu planen, entstehen die besten Arbeiten. In einem solchen Fall sage ich, nicht Ich male das Bild, sondern Es malt sich selbst.

Damit möchte ich verdeutlichen, dass sich hier dieses Gesamtbewusstsein gezeigt haben könnte. Wenn dies der Fall ist, wäre es ebenso möglich, dass alles, was ich tue, nicht ein Ich tut, sondern Es, also, dieses Gesamtbewusstsein, eine Art höheres Selbst, was dann aber ebenso das höhere Selbst eines anderen wäre.
Dieses universelle Bewusstsein zeigt sich in mir ebenso wie in meinem Gegenüber und in allen anderen Lebewesen. Dies könnte den wissenschaftlichen Nachweis darüber erklären, dass das Gehirn scheinbar schon eine Entscheidung in Bruchteilen von Sekunden vor meiner bewussten Wahrnehmung getroffen hat.

Was jedoch viel wichtiger erscheint, ist die Sache mit dem Mitgefühl. Jetzt macht es wirklich Sinn ein anderes empfindendes Wesen in meine Entscheidungen und Handlungen auf liebevolle Weise mit einzubeziehen, da ich ja vom Befinden meines Gegenübers ebenso betroffen bin, wie von meinem eigenen. Dies würde eine ganz neues Licht auf das Thema Liebe werfen.
Ich sehe dieses übergeordnete Bewusstsein als ein in sich bewegtes, farbenfrohes, Raum und Zeit übergreifendes sich selbst erleben. Es trägt scheinbar alles Wissen in sich und ist zu unbegrenzt intelligenten Entscheidungen fähig. Jedes lebende Wesen ist ein Teil dieses Bewusstseins und agiert als solches.
Wenn ich mit dieser Idee im Kopf einen anderen Menschen dabei beobachte, wie er mit mir spricht, wir mit einander und untereinander kommunizieren und interagieren, mit Worten, Blicken und Gestiken, jeder inneren Regung, sehe ich ganz ohne einen Hauch von einem Anspruch an ein eigenständiges unabhängiges Ich einen Tanz, eine Interaktion dieses Gesamtbewusstseins, und empfinde Freude und Mitgefühl über das, was da zwischen uns geschieht.
Dies ist ein völlig anderes Erleben, als den ständigen Gedanken  zu haben, mich vor dem anderen abgrenzen und schützen zu müssen, ihm und mir beweisen zu müssen, der stärkere oder mindestens gleich stark zu sein. Das ist eine zerstörerische Kriegsstrategie eines egoistischen Bewusstseins gegen sich selbst. Es ist ähnlich, als würde das Immunsystem gegen den eigenen Körper vorgehen, was ja durchaus als Erkrankung existiert und zur Zerstörung des ganzen Organismus führen kann.

Nun gehe ich nicht davon aus, dass wenn wir einem Gesamtbewusstsein untergeordnet sind, keine Eigenverantwortung tragen, ganz im Gegenteil, mein Gedanke sagt, jeder ist für den Zustand des Gesamtbewusstseins mitverantwortlich. Deshalb ist  es so wichtig, darauf zu achten, positive und liebevolle Dinge zu denken und zu tun, fürsorglich mit allem umzugehen. Die Farben der Gedanken und Gefühle spiegeln sich im Licht der Wirklichkeit wieder. Ich denke, dass wir so unser Schicksal selbst erschaffen.

Auf dieser Welt ist es nicht möglich zu leben, ohne ein lebendes Wesen zu töten und wenn es die kleinsten Einzeller sind. Vielleicht ist das der Grund, weshalb die Buddhisten danach trachten, diese Art Lebenszustand durch endgültige Erleuchtung zu verlassen, um diesem Leid ein Ende zu bereiten und dem Gesamtbewusstsein damit eine lichtere Färbung und liebevolleres Befinden zu ermöglichen. Wenn man sich selbst als Teil dieses Bewusstseins betrachtet, dann ist dieses Bestreben nur all zu verständlich.

Es ist ein völlig anderes Lebensgefühl, mit dem Gedanken durch die Welt zu gehen und anderen zu begegnen, dass wir alle Ein und das Selbe Bewusstsein haben, dass ich im anderen mir selbst begegne und er sich in mir begegnen kann, dass das Leben ein ständiges Reigen und Tanzen ist, in dem sich ein grenzenloses Bewusstsein selbst erlebt und die Kommunikation wie ein Lebenselixier alles in Bewegung hält. Ob dieses Bewusstsein sich gut oder schlecht fühlt liegt ganz in unserem Ermessen.

Dabei ist es völlig gleich, wem gegenüber ich mich liebevoll verhalte, ob einem Nahe stehenden oder einem Fremden, derjenige, der am meisten Hass und Angst in sich trägt hat am meisten Liebe nötig. Und da ich davon ausgehen kann, dass ein Ich keine Substanz hat, und nicht wirklich existent ist, brauche ich mich darum auch nicht zu sorgen. Worum ich mich „Für-sorge“ ist unser Gesamtbewusstsein.




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