Samstag, 20. September 2014

Isolationshaft oder Stella redet...





Wenn Schnitte in der Seele schmerzen, zieht sie sich zusammen – dachte sie und schloss ihre Türen. Jedes Wort von ihr war eines zu viel. Jedes Unverständnis von außen war ein weiterer Schnitt, eine weitere Wunde. Sie konnte sich keine mehr leisten also schwieg sie. 
Man bemerkte ihr Schweigen nicht und das war gut so, sie bewegte sich auf der Oberfläche und niemandem fiel auf, dass sie schwieg.

„Isolationshaft“ war eines der Worte, mit denen sie ihren Zustand zu beschreiben pflegte und ein fast schon zynisches Lächeln huschte ihr unbemerkt über die Lippen. Ein Wort musste reichen, um alles zu sagen.

Immer wieder in immer kürzeren Abständen lief dieser Film vor ihren Augen ab, die ganzen Jahre, bis heute. Selbst in diesem Film schienen sich Sequenzen immer zu wiederholen und auch dies geschah in immer kürzeren Abständen, bis sie das Gefühl hatte, eine Platte wäre hängen geblieben und spielt ständig die selbe Stelle eines Stückes wieder. Diese Szenerie hatte etwas ekelhaft Provokantes an sich. Jeder Morgen war der selbe wie gestern, jeder Abend bedeutete einfach nur einen Tag weniger, den sie noch vor sich hatte. Die Stunden dazwischen brachten keinen Zugewinn. Sie fühlte jeden Tag deutlicher, wie sich ein beängstigender Mechanismus in ihr verselbständigte. So ähnlich musste es sein, wenn eine Körperzelle ihrer zugeordneten Aufgabe nicht mehr gerecht werden kann und der Prozess der Selbstzerstörung einsetzt. Warum sollte das nicht auch für einen kompletten Organismus gelten?

Isolationshaft – man befindet sich so lange darin, bis es sich entschieden hat, ob man noch lebenstauglich ist oder nicht. So dachte sie und fragte sich, wofür sie so bestraft würde von wem oder was auch immer, sich selbst, von all den fatalen Entscheidungen, die sie im Leben getroffen hatte und die sie jetzt genau an diesem Punkt ankommen ließen, auf diesem Platz, auf dem es scheinbar kein Entrinnen gab, keine Flucht mehr und schon gar nicht nach vorn. 
„Ich habe mein Leben an die Wand gefahren“ und von dieser Wand kommt man nicht mehr los – glaubte sie und schwieg, bis zu diesem verregneten Tag an dem dieses eine Bild so lebendig und erschütternd mitten in ihrer Seele explodierte, dieses Bild, begleitet von dem schockierenden Gefühl von Wahrhaftigkeit und ihr Körper von lebensbedrohlicher Angst gepackt zusammenfuhr.

So deutlich fühlte sie die Klinge in ihrer Magengrube welche alles voneinander zu trennen schien. Dieser Akt würde den endgültigen Auflösungsprozess einleiten – diese Entscheidung wäre unwiderruflich.

Sie stand auf, ihre Knie zitterten ein wenig und sie löste sich unmerklich aus dem oberflächlichen Gespräch mit ihrem Gegenüber und stieg die Treppen hinunter in ihr Kellergeschoss in dem sie seit Jahren lebte.

„Es muss aufhören – das will ich nicht, nicht so, ich habe doch etwas anderes verdient!“ Dies war der erste Schrei nach Leben, den sie nach so langer Zeit ausgestoßen hatte. Sie ging in ihr Zimmer, verschloss die Türe hinter sich und zog die Vorhänge zu – ließ den kalten Dezemberregen draußen und setzte sich auf ihren Sessel. 
Denken, wie jeden Tag, Stunde um Stunde der Versuch, Ordnung herzustellen und immer dieselbe Erkenntnis, dass der Denkprozess keine Ordnung schaffen kann, er schafft nur noch mehr Worte – es muss aufhören. 

Wieder dachte sie an die Körperzelle, ihren Zellkern und den genetischen Code. Woher nimmt die Zelle das Wissen darüber, welchem Zweck sie dient und welche Aufgaben sie zu erfüllen hat – vielleicht kennt auch die Zelle den Zweifel und beginnt so allmählich zu entarten, indem sie ihre natürliche Aufgabe „in Frage“ stellt, ihr einfach nicht folgt. Verrückter Gedanke, sie wusste es, und trotzdem wagte sie sich daran zu denken, auch sie selbst habe einen genetischen Code, einen Zugang zu ihrem tiefsten Inneren, das weiß, was sie zu tun hat und wer oder was sie wirklich ist. Sie erinnerte sich, dass es da etwas in ihr gab, dem sie vertrauen konnte, ein intuitiver Impuls aus dem Informationen fließen, vorausgesetzt man klebt nicht, wie sie, an dieser Wand. Sie sah sie deutlich vor sich, so hoch und so breit, dass sie deren Enden nicht überblicken konnte. Die letzten Schritte vor diese Wand könnten in umgekehrter Form die ersten sein, die davon wieder wegführen, sprach diese Stimme in ihr, welche sie so lange nicht mehr gehört hatte. Sie wagte den Ersten, dann den nächsten und so ging sie einige Schritte zurück, so lange, bis die Wand immer kleiner wurde und nun wie ein Block vor ihr stand. Allmählich wurde ihr bewusst, dass es die Richtung ihres Denkens war, das sie immer näher an diesen Block heran trieb, so lange, bis sie vor dieser unüberwindlichen Wand stand. Wäre sie frühzeitig abgebogen, sie hätte den Block umgehen können, sie hätte nur ihre Aufmerksamkeit anders ausrichten müssen und ihr Weg hätte sich geändert, aber sie hatte stur weiter auf diesen einen Block gestarrt, bis sie mit dem Gesicht davor stand. Als sie dies erkannte, hatte sie bereits viele Stunden vor ihrer Staffelei gestanden, und von tiefsinniger Musik begleitet ihr Inneres endlich nach draußen gemalt, sich selbst auf der Leinwand verständlich gemacht. Ein Denkprozess hätte dies niemals vermocht.   
„Jetzt bin ich mir selbst verständlich“ dachte sie, folgte den Linien und symbolträchtigen Formen und lächelte. Wer dies jetzt versteht, versteht auch mich, dem bin ich nicht fremd. Isolationshaft beendet? Zumindest stand die Türe offen und ein Teil von ihr trat ins Freie.
Es hat noch viele Monate gedauert, bis sie so viel  von sich ins Freie brachte, dass sie wieder erkennbar war, wieder wahrnehmbar, auch von sich selbst.

Allmählich entwickelt sich ein Bild von ihr – eines, das ihr noch nie erlaubt war zu sehen.
Sie verankert bewusst Teile von sich im Außen um diesen Zugang nicht mehr zu verlieren. Mit wem sie sich wahrhaft verbindet wird im tiefsten Inneren bewusst entschieden – jede Tat, jede Handlung, jeder Gedanke begleitet von dem aufrichtigen Wunsch nach einem authentischen Dasein im Augenblick – immer, jetzt und hier. Dies ist ihr Fundament, der Punkt der Mitte zu dem sie immer wieder zurückzukehren weiß – denn, wenn sie jetzt geht, legt sie Spuren.


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